Davos - die Wiege des Massentourismus

Dr. Tilo Grabach | 16.04.2021

Noch vor 127 Jahren waren die Alpenhänge im Winter unberührte, bedrohliche Kulissen. Dann jedoch begann mit Fridtjof Nansens Grönland-Expedition, mit Johannes und Tobias Brangers Skitour von Davos nach Arosa und schließlich einem Zeitungsartikel von Arthur Conan Doyle in Davos der Hype um die „norwegischen Schneeschuhe“.


Wintersport in Zeiten der Pandemie

In den Nachrichtensendungen dieses Winters tauchten regelmäßig Meldungen auf, dass in den Wintersportorten in Deutschland Hotels und Gastronomie geschlossen seien. Auch die großen Parkplätze wären gesperrt, die Skilifte nicht in Gang gesetzt und die Skipisten nicht präpariert.

Damit einher ging die dringliche Aufforderung von Politiker*innen und Behördenvertreter*innen an die Bevölkerung, von Besuchen in den Skigebieten generell Abstand zu nehmen. Mit diesen gezielten Eingriffen in die Abläufe der winterlichen Freizeitgesellschaft sollte die weitere Verbreitung des Covid19-Virus verhindert werden. Die aus dem Wintersport resultierende wirtschaftliche Abhängigkeit so manchen Alpendorfes wurde gegen das Gesundheitsrisiko abgewogen. Es hatte sich schon vor einem Jahr gezeigt, dass es gerade in vielen dieser Orte zu sprunghaften Ausbrüchen der Corona-Pandemie gekommen war. Zum Beispiel von Ischgl (Tirol) aus hatten Touristen das Virus in ganz Europa verteilt.

Trotz der zurückgefahrenen Infrastruktur und aller Appelle zu Hause zu bleiben, waren dennoch auch in diesem Winter unzählige Menschen im Alpenraum unterwegs gewesen, um dem Skisport zu frönen. Der Wunsch, der sozialen Isolation wenigstens für einen Tag entkommen zu können, war übermächtig. Für ein vermeintlich unbeschwertes Wochenende auf Skiern nahmen die Freizeitsportler nun sogar in Kauf, auf die üblichen Bequemlichkeiten zu verzichten. Statt mit Lift und Seilbahn in hochgelegene Skigebiete zu gelangen, schulterte man wie anno dazumal die Skier und stapfte die Hänge hinauf.

Auch ein Blick über die Landesgrenzen verrät, dass insbesondere der Skisport ein enormer Wirtschaftsfaktor ist. Anders als in Deutschland waren die Skigebiete in Österreich, v.a. aber in der Schweiz lange geöffnet und die Skipisten nicht nur von Einheimischen bevölkert.

So selbstverständlich, wie es uns heute vorkommt, war das Skifahren aus reiner Freude im Winter jedoch nicht immer. Denn erst vor rund 125 Jahren begann in Mitteleuropa der Siegeszug dieses Wintervergnügens.


Fridtjof Nansen, oder: Der Siegeszug des Alpinen Skisports begann in Grönland

Es gab nicht „das eine“ Ereignis, dem der Skisport seine Beliebtheit verdankt. Vielmehr waren es mehrere Begebenheiten, die zu seiner Popularität beitrugen. Als mittelbare Initialzündung für die seitdem anhaltende Begeisterung für das Skifahren lässt sich wohl Fritjof Nansens (1861–1930) Grönland-Expedition zurückführen.

Die sechsköpfige Mannschaft durchquerte vom 15. August bis zum 3. Oktober 1888 die riesige Insel von Osten nach Westen. Mit dabei waren Sami und Norweger, deren Qualifikation u.a. darin bestand, dass sie geübte Skiläufer waren.

Anders als in den Alpen war das Skilaufen in Skandinavien bereits eine alltägliche Angelegenheit zur Fortbewegung und Freizeitgestaltung im Schnee. Bereits im 18. Jahrhundert waren militärische Einheiten mit Skiern ausgerüstet, und sportliche Wettkämpfe zwischen schwedischen und norwegischen Grenztruppen sind belegt. 843 dann gab es den ersten nichtmilitärischen Wettkampf in Tromsø.

Dass Nansen Ski als Hilfsmittel für die Querung Grönlands nutze, verwundert also nicht. Er kannte die Vorteile, die diese Art der Fortbewegung im Winter hatte, seit er vier Jahre alt war. Über die außergewöhnliche Expedition berichtete schließlich die internationale Presse. 1890 veröffentlichte Nansen dann sein Buch „Paa ski over Grønland“ über die gewagte Expedition und brachte so das Skifahren ins Bewusstsein der Mitteleuropäer. 1890 erschien eine englische, 1891 eine deutsche Übersetzung mit dem Titel „Auf Schneeschuhen durch Grönland“.

Das dritte Kapitel „Das Schneeschuhlaufen, die Entwicklung und die Geschichte dieser Kunst“ ist ein einziges Loblied auf die Skier:

Die Expedition, welche wir hier zu schildern gedenken, hat ihre Entstehung einzig und allein dem norwegischen Schneeschuh laufen zu verdanken. (…)  und die Ausführung der ganzen Expedition war auf der Überlegenheit der Schneeschuhe über jedes andere auf Schneeflächen in Anwendung kommende Beförderungsmittel begründet.

Später heißt es:

Das Schneeschuhlaufen ist der nationalste aller nordischen Sports und ein herrlicher Sport ist es; – wenn irgendeiner den Namen des Sports aller Sports verdient, so ist es dieser.

Bemerkenswert, dass Nansen von einem „Sport“ spricht, attestiert er damit doch einen kulturellen Wandel. Skier wurden nicht mehr ausschließlich zur Jagd, zur Überwindung von langen Strecken oder für den militärischen Einsatz verwendet, sondern waren in Norwegen schon länger auch Hilfsmittel für das reine Vergnügen!

Wie wirkmächtig Nansens Schilderung in Mitteleuropa war, zeigt die Tatsache, dass er noch während der Gründungsversammlung des Skiklubs Todtnau im Schwarzwald 1891 zu dessen Ehrenmitglied ernannt wurde.


Tobias und Johannes Branger, oder: Der kürzeste Weg von Davos nach Arosa über die Berge

Auch die Davoser Brüder Tobias (1858–1931) und Johannes Branger (1862–1948) hatten vermutlich durch Zeitungsberichte Kenntnis von Nansens Grönlandexpedition erhalten. Dank des internationalen Davoser Publikums waren Tageszeitungen ausreichend vorhanden, und die Expedition Nansens wird darin immer wieder geschildert worden sein.

Man kann sich vorstellen, dass dieses Wagnis damals so ausgiebig thematisiert wurde wie die Erstbesteigung des Mount Everest 1953 oder die Mondlandung 1969. Noch 1889 ließen sich die Brüder Branger aus Norwegen Skier kommen und übten fortan in den Winternächten das Tourengehen an den Davoser Hängen. 1890 machten sie schließlich eine erste kleine, vielleicht vier Kilometer lange Tour zur Strelaalp. Es folgten weitere Skiwanderungen rund um Davos.

Inzwischen war auch Nansens Buch über die Grönlandexpedition auf Deutsch erschienen. Seine Begeisterung für das Skifahren war so groß, dass er darin auf 57 Seiten dessen Geschichte von den Anfängen bis in seine unmittelbare Gegenwart rekonstruierte. Beim Lesen fällt auf, dass Nansen keinerlei skifahrerischen Aktivitäten in Mitteleuropa erwähnt, während er aber Beispiele für China, Australien oder Chile kennt.

Vielleicht hatten die Brangers, nachdem sie Nansens Buch gelesen hatten, den Entschluss gefasst, dass Davos ein geeigneter Ort sei, um diese Leerstelle zu füllen. Jedenfalls unternahmen sie am 23. und 24. März 1893 eine Tour von Davos über die Maienfelder Furka bis nach Arosa und zurück.

Es war ihnen wohl ein Anliegen gewesen, diese „Expedition“ öffentlich bekannt zu machen. Johannes Branger schilderte das Abenteuer bereits vier Tage später ausführlich in der Neuen Bündner Zeitung. Die Lektüre lässt vermuten, dass beide Nansens Buch gelesen hatten, vergleicht Johannes ihre Tour doch mit jenen Unternehmungen, die aus Norwegen bekannt waren. Und das waren eben jene, über die Nansen berichtet hatte.

Noch wichtiger als die Erinnerung an die norwegischen Vorbilder jedoch ist Johannes Brangers prophetische Erkenntnis, wieviel Potenzial dem Skilaufen innewohnt:

Jedenfalls ist der Skilauf der Pflege wert, und es wird wohl nicht lange dauern, bis entweder die Herren Hoteliers gesunden Gästen Ski zur Verfügung stellen oder sich letzte eigene anschaffen und damit eine ebenso gesunde Unterhaltung finden, wie mit Schlitteln und Schlittschuhlaufen.


Arthur Conan Doyle, oder: I claim to have been the first

Wie richtig Johanes Branger mit seiner Prophezeiung gelegen hatte, zeigte sich schon sehr schnell. Denn nachdem im Winter 1893/1894 Arthur Conan Doyle (1859-1930) nach Davos gekommen war, entwickelte sich eine immense Dynamik in Sachen Skisport.

Der berühmte Schriftsteller begleitete seine Frau, die hier ihre Tuberkuloseerkrankung kurieren wollte. Er hingegen nutzte die Zeit, um seinen ersten Sherlock Holmes Zyklus zu beenden, indem er den Helden im Reichenbachfall sterben ließ. In dieser Zeit gab es in Davos wohl schon eine Hand voll Briten, die sich im Skifahren versuchten. Und irgendwann muss Doyle dann auch von der Skitour der beiden einheimischen Brüder erfahren haben. Er selbst hatte den Sport bereits 1892 während eines Norwegenaufenthalts kennengelernt, ohne ihn selbst ausgeübt zu haben. Außerdem kannte er Nansens packende Schilderung von dessen Grönlandexpedition. Immer auf der Suche nach neuen Herausforderungen, konnte er beide schließlich animieren, mit ihm zu üben, um die Wanderung auf norwegischen Skischuhen gemeinsam zu wiederholen.

Anders als die eher kühle Schilderung Johannes Brangers in der Neuen Bündner Zeitung kam Doyles Bericht über die Expedition im Strand Magazine sehr humorig daher. Der Erwartungshorizont seiner Leserschaft in diesem internationalen Journal war ja ein gänzlich anderer. Man wollte unterhalten werden. In seinem Artikel stellte er dann auch nicht die beiden Brüder in den Mittelpunkt, sondern machte sich selbst zum „komischen Helden“ des Ereignisses.

Und weil mit wesentlich mehr Empathie verfasst, gerieten Doyle auch die Passagen über die angenehmen Seiten dieses Sports sehr schwelgerisch:

But now we had a pleasure which boots can never give. For a third of a mile we shot along over gently dipping curves, skimming down into the valley without a motion of our feet. In that great untrodden waste, with snow-fields bounding our vision on every side and no marks of life save the tracks of chamois and of foxes, it was glorious of whizz along in this easy fashion.

Wie schon vor ihm Johannes Branger – oder gerade, weil er dessen Prophezeiung bereits kannte –, sah Arthur Conan Doyle eine goldene Zukunft für den Skisport:

This is not appreciated yet, but I am convinced that the time will come when hundreds of Englishmen will come to Switzerland for the ‘ski’-ing season, in March and April. I believe that I may claim to be the first save only two Switzers to do any mountain work (though on a modest enough scale) on snow-shoes, but I am certain that I will not by many a thousand be the last.

Ob bewusst oder unbewusst: Doyle verkannte die historischen Fakten, denn er war gewiss nicht der erste Nicht-Schweizer, der sich auf Skiern durch die winterlichen Berge gekämpft hatte.

Immer wieder hatte es auch schon vorher erfolgreiche Versuche gegeben, allein sie führten nicht zum Durchbruch des Skisports in den Alpen. Das hingegen ist tatsächlich Doyles Verdienst. Er war der erste, der aufgrund seiner eigenen Popularität eine große Leserschaft erreichte und diese für das Skifahren begeistern konnte. Anders als es eine Grönland-Expedition erwarten ließ, konnten diejenigen, die ihm nacheifern wollten, in Davos auf eine exzellente Infrastruktur zurückgreifen.

Man reiste bequem mit der Eisenbahn an, nicht mit dem Walfänger. Statt in kalten Zelten, übernachtete man in geheizten Hotelzimmern mit fließendem Wasser. Und nach einer Skitour musste man nicht auf Konservendosen oder Dörrfleisch zurückgreifen. Vielmehr konnte man in einem gehobenen Restaurant à la Carte einkehren. Was sprach also dagegen, es Arthur Conan Doyle nachzumachen, ließen sich hier doch Komfort und Nervenkitzel aufs Beste kombinieren?

Und tatsächlich, der Enthusiasmus, den Doyle entfacht hatte, führte schnell dazu, dass er als der erste galt, der die Alpen mit Ski erkundet habe. Nicht zuletzt er selbst befeuerte diese Legende immer wieder. So schrieb er 1924 in seinen Memoiren:

There is one form of sport in which I have, I think, been able to do some practical good, for I can claim to have been the first to introduce skis into the Grisons division of Switzerland, or at least to demonstrate their practical utility as a means of getting across in winter from one valley to another.

Knapp 75 Jahre nach der Skitour von Davos nach Arosa hatte sich die fälschliche Annahme dermaßen verfestigt, dass sie als Tatsache galt. So ist auf einer 1968 im Davoser Kurpark errichteten Gedenktafel zu lesen:

In tribute to Sir Arthur Conan Doyle 1859-1930. English author — creator of Sherlock Holmes — and sportsman, who on March 23, 1894, crossed the Maienfelder Furka from Davos to Arosa on skis, thereby bringing this new sport and the attractions of the Swiss Alps in winter to the attention of the world. The perfect pattern of a gentleman.

Auch wenn sie in den Texten Doyles und im kollektiven Gedächtnis eine eher marginale Rolle einnahmen, machten sich die Branger-Brüder den Ruhm des Autors selbst zu Nutze. In einer nach 1895 aufgenommenen Fotoserie zogen sie sich so an, dass Johannes dem seriös-pragmatischen Dr. Watson ähnelt, während Tobias wie der kauzige Conan Doyle selbst daherkommt. Ihre Verbindung zu Doyle machte sie zu beliebten Skilehrern und Begleitern bei zahlreichen Touren in den Davoser Bergen.

Tobias und Johannes Branger, nach 1895
Foto: Jakob Sigrist-Herder, Davos nach 1895; Wintersportmuseum Davos


Davos, die Wiege des Massentourismus

Die Nachfrage nach Skiern muss schon kurz nach der Veröffentlichung von Doyles Artikel im Strand Magazine vom Dezember 1894 immens gewesen sein. Davoser Wagner begannen mit der Handfertigung von Skiern, um den Kurgästen den Wunsch zu erfüllen, diesem „neuen“ Sport“ nachgehen zu können. Bereits 1895 eröffnete Peter Ettinger eine erste Skifabrik in Davos Glaris, die über mehrere Generationen existierte.

Ins gleiche Jahr fällt auch die zufällige „Entdeckung“ des Parsenngebiets als Tourengelände zwischen Weißfluhgipfel und Küblis durch Britische Kurgäste. Bereits 1908 war die Region so gut erschlossen, dass von der Parsennhütte aus gut 30 Touren möglich waren.

Was 1893 als Abenteuer zweier Skipioniere seinen Anfang genommen hatte, hatte sich keine zehn Jahre später zu einer ersten Form des winterlichen Massentourismus ausgewachsen.  Mit diesem Kulturwandel hin zur extensiven Freizeitgesellschaft ging fortan auch eine immense wirtschaftliche Entwicklung der Alpen Hand in Hand. Ehemals landwirtschaftlich geprägte Bergdörfer wandelten sich zu Ausflugszielen mit neu organisierten Strukturen. Als 1934 schließlich der erste Bügellift der Welt in Davos errichtet wurde, erreichte die Ökonomisierung der Berge einen weiteren Höhepunkt.

Nun waren nicht mehr nur die Abfahrten ein Vergnügen, sondern auch der Weg nach oben bequem. Allein in der ersten Saison wurden 70.000 Fahrten verzeichnet. Damit wurde neben dem Kurwesen ein zweites Standbein geschaffen, dass der Stadt im Hochgebirge auch nach dem Zweiten Weltkrieg das Überleben sicherte.

Welch übergeordnete wirtschaftliche Rolle der Wintersport – und hier insbesondere der Skisport – auch heute noch für die Alpenregion spielt, machte nicht zuletzt die Corona-Pandemie des vergangenen Jahres deutlich. Ohne Skitouristen ist ein Überleben in den Bergen kaum noch möglich.

 

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