Kleidung - fast wie neu

Anna Behrend M.A. | 27.06.2020


Kleidung - fast wie neu

Das Germanische Nationalmuseum bewahrt einen großen Reichtum an kunst- und alltagsgeschichtlichen Zeugnissen der Menschen. Diese bilden die Basis für eine Vielzahl von Geschichten von Menschen und ihren Dingen. Heute nehme ich Sie mit in unsere Sammlung Textilien und Kleidung. Hier zeigen uns zahlreiche Spuren, wie die Menschen mit ihrer Kleidung umgingen: sie wurde umgearbeitet, angepasst und weiterverwendet.


Kleidung als Status-Symbol oder Alltags-Notwendigkeit

Kleidung war schon immer beides: unerlässlicher Gebrauchsgegenstand und zugleich aufwendiges Mittel der Selbstdarstellung, das Stand und soziale Stellung der Träger/-innen deutlich machte. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das benötigte textile Material kostspieliger als die Arbeitszeit zur Herstellung der Kleidung. Sogar für Alltagskleidung wendeten die Menschen einen erheblichen Teil ihres Einkommens auf, auch weil Kleidung getragen wird und verschleißt. Und sie kommt aus der Mode.


Mit der Mode gehen

Kleidung ist in besonderem Maße modischen Strömungen unterworfen – weshalb in der Alltagssprache häufig die Begriffe Kleidung und Mode synonym verwendet werden.

Eine spannende Entdeckung machten unsere Kunsttechnologen bei der Untersuchung der Zunfttafel der Nürnberger Kammmacher. Röntgenaufnahmen der Tafel beweisen das „Modebewusstsein“ der Kammmacher: Die dargestellten Personen trugen auf der ursprünglichen Fassung von 1647 Halskrausen und Pluderhosen. Das entsprach Anfang des 19. Jahrhunderts nicht mehr der gängigen Mode. Die Zunft ließ die Tafel wiederholt übermalen. Die letzte Übermalung ist 1819 datiert und zeigt die damaligen Mitglieder des Handwerks in damals zeitgemäßer Kleidung.

Was auf dieser Zunfttafel durch Übermalung gelöst wurde, erledigten Schneider-/innen mit Nadel und Faden direkt an Kleidungstücken. Garderobe wurde umgearbeitet und auf den neuesten modischen Stand gebracht. Anleitungen für die Hausschneiderei boten Modezeitschriften, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend erhältlich waren. Tagebucheinträge, Kleiderinventare und vor allem zahlreiche erhaltene Objekte mit Veränderungen belegen diese Praktik.

Das Umarbeiten von Kleidung war keineswegs nur für Gesellschaftsschichten mit niedrigerem Einkommen typisch. Auch die Repräsentationsgarderobe des gehobenen Bürgertums wurde umgearbeitet. Mit der Mode zu gehen war wichtig, unmoderne Kleidung einfach auszusortieren kam jedoch nicht in Frage. Schauen wir uns dieses Turnürenkleid aus Seide genauer an, erkennen wir bei sorgfältiger Untersuchung zahlreiche Einstichlöcher von ehemaligen Nähten auf Rockteil und Ärmeln des Kleides. In den 1880er Jahren wurde es vermutlich teilweise auseinandergetrennt und entsprechend der modischen „Façon“ umgestaltet; wir sehen heute diesen letzten Zustand. Die ursprüngliche Besitzerin verlängerte so die Tragedauer des Kleides und war dennoch modisch „up to date“. Dass dies eine gängige Methode war, belegen auch zahlreiche Modelle in Mode-Sammlungen internationaler Museen.


Körper verändern sich

Doch nicht nur die Mode, auch Körper verändern sich, werden dicker oder dünner. Kinder wachsen aus ihrer Kleidung heraus. Sind wir „rausgewachsen“, kaufen wir heute meist ein neues Kleidungsstück, das war nicht immer so.

Das Wams aus der Zeit um 1630/40 wurde mehrfach verändert, um es einem fülliger gewordenen Träger anzupassen. Zunächst setze man Streifen aus blauem Seidensamt in den Seitennähten ein, um es weiter zu machen. Bei einer späteren Veränderung sorgten keilförmige Stoffstücke im Rücken für eine veränderte Silhouette mit einer deutlich schmaleren Taille. Sie hatten zuvor als Laschen der Schulterstücke gedient. Zwar ist das Wams nicht eindeutig der Herren- oder Damenmode zuzuordnen, denn sowohl Männer als Frauen trugen diese Art der Oberkleidung. Die nachträgliche Betonung der Taille macht aber eine Trägerin wahrscheinlich.


Materielle Knappheit – Not macht erfinderisch

Besonders wertvoll wird Kleidung und textiles Material dann, wenn es ohnehin an allem mangelt. Bis heute fest im allgemeinen Gedächtnis verankert sind Strategien zur Um- und Weiternutzung in Kriegs- und Notzeiten. Ein akuter Mangel an Stoffen bestand während des Ersten Weltkriegs und auch in der Zwischenkriegszeit durfte das wertvolle Gut unter keinen Umständen verschwendet werden.

Lösungsvorschläge boten Anleitungen und Schnittauflagepläne. Gezeigt wird, wie sich aus nicht mehr benötigten Uniformen unter bestmöglicher Ausnutzung des Materials Notkleidung herstellen ließ. Nicht zuletzt die außerordentlich hohen Preise für Wollstoffe, bei schlechter Qualität, machten das Umarbeiten und Wenden zu einer Hauptaufgabe der Schneider/-innen.

Die Erfahrungen des extremen Mangels im Textilbereich während des Ersten Weltkriegs veranlassten die Nationalsozialisten dazu, frühzeitig steuernd in Textilwirtschaft und private Haushaltsführung einzugreifen. Neben der nachdrücklichen Bewerbung neuer Textilfasern, die von Rohstoffimporten aus dem Ausland unabhängig machen sollten, gehörten dazu Rationierungssysteme wie die Reichskleiderkarte. Außerdem wurde in großem Maßstab das Umarbeiten und Weiterverwenden von Kleidung propagiert. Letztlich schlugen diese Maßnahmen, die eine ausreichende Versorgung der Bevölkerung mit Kleidung gewährleisten sollten, fehl.
Die Bevorzugung der Kriegsindustrie, Probleme bei der Herstellung und Vermarktung synthetischer Textilfasern und Fehlplanungen führten erneut dazu, dass die Bevölkerung auch noch in der Nachkriegszeit erheblich unter Kleidungsnot litt.


Aus Herren- wird Damenkleidung, aus Socken werden Pullover

Die Damenjacke im Trachtenstil aus unserer Sammlung zeigt, wie die Menschen auch nach dem zweiten Weltkrieg Uniformen zu Zivilkleidung umnähten. Deutlich zu sehen sind die zugenähten, ursprünglichen Knopflöcher, die sich bei Herrenkleidung auf der linken Seite befinden. Aus Herren- wurde hier Damenkleidung. Im Rückenteil finden sich angestückelte Schnittteile, die der begrenzten Stoffmenge geschuldet sind.

Noch die kleinsten Mengen an Material wurden weiterverwendet. Wie kreativ aber auch kompromisslos viele Menschen in der Kriegs- und Nachkriegszeit mit Ressourcen umgehen mussten, führt dieser schwarz-grau gestreifte Kurzarmpullover vor Augen: Er entstand 1944 beim Tod des Vaters als Trauerkleidung. Das Material lieferten aufgetrennte Socken des Verstorbenen, die zusammen mit weiteren Wollresten verarbeitet wurden. Das schmale Streifenmuster in wechselnder Richtung kam der notwendigen Verwendung der Reststücke entgegen, die ein häufiges Einstricken notwendig machten.

 

Kreativ auch bei Kinderkleidung

Aus hellblauem Militärtuch und einem Stoffrest entstand ein Kindermäntelchen.
Als Verschluß dienten Uniformknöpfe.
 


Stückeln – begrenzte Ressourcen nutzen

Durch das geschickt angelegte Streifenmuster sieht man dem Pullover die Zweitverwendung nicht auf den ersten Blick an. Anders bei einem Kittelkleid aus blauem Leinengewebe: Für jeden sichtbar sind die zahlreich gestückelten kleinen Stoffteile, aus denen das Kleid zusammengesetzt ist. Gebrauchsspuren und Flickstellen zeigen, dass es lange verwendet und vielfach ausgebessert wurde. Es handelt sich offensichtlich um Arbeits- und Schutzkleidung einer vermutlich nicht sehr wohlhabenden Frau.


Objektbiografien rücken ins Forschungsinteresse

Wir finden bei nahezu allen museal verwahrten Objektgruppen Spuren von Veränderungen. Menschen nutzten Dinge schon immer um, passten sie dem Zeitgeschmack an und verwendeten sie weiter. In die Forschung findet dieser Aspekt erst in den letzten Jahren zunehmend Eingang. Auch in der Kleidungsforschung stoßen Objektbiografien, d.h. die verschiedenen Stationen, die Kleidungsstücke während „ihres Lebens“ durchliefen, vermehrt auf Aufmerksamkeit. Spuren, die durch Veränderungen und Umnutzungen entstanden sind, stören nicht mehr zwangsläufig oder mindern den Wert eines „Originals“; im Gegenteil: diese Spuren führen uns unterschiedliche Nutzungskontexte vor Augen und bereichern so die Geschichte eines Kleidungsstückes enorm.

Wie gehen Sie mit Kleidung um, die nicht mehr „modern“ ist oder aus der Sie herausgewachsen sind? Teilen Sie hier gerne Ihre Kleidungsgeschichten mit uns!


Kommentare

02.07.2020 | Bess, Irmela

Schöner Artikel, danke! Ich bin 61er Jahrgang, lebte als Kind einige Zeit bei meinen Großeltern. Meine Großmutter hat aus einem winterlichen Damenmantel einen Kindermantel für mich genäht, meine Mutter hat mir und zwei Geschwistern selbstverständlich unsere Faschingskostüme genäht. Wie schön. Jetzt habe ich selbst Enkel, ich kann das leider nicht. Auch fiele es mir schwer die Ruhe zu finden, mich so lange hinzusetzen und zu tüfteln. |GNM_BLOG ANTWORTET: Herzlichen Dank für den kleinen Einblick in Ihre Familien(näh-)geschichte


28.06.2020 | Dr. Lore Gewehr MA

Danke für den Beitrag. Ich kann mich auch gut erinnern, dass Anfang der 50er Jahre jeden Monat eine Hausschneiderin zu uns kam mit einem Koffer voller Garne, Knöpfe, Litzen und Stoffresten. Sie blieb meist 2 Tage, schlief auf dem Sofa und wurde beköstigt. Und dann wurde auf dem Küchentisch geplant, gezeichnet, alte Garderobe anprobiert etc, bis für meine Schwester und mich (mitten im Wachstum) ein paar beinahe neue Blusen oder Schürzen entworfen waren. An diesen Tagen mied mein Vater die Häuslichkeit! Ich fand es spannend und durfte auch manchmal unsere Nähmaschine bedienen und das Pedal für den Antrieb treten. Als wir 1958 nach Berlin zogen, war für mich das Überwältigendste die luxuriöse Stoffabteilung im Lichthof des KadeWe. Ich nähe noch heute gerne, mute mir aber nur noch kleine Änderungen zu. Schöne Erinnerungen, danke, | GNM_BLOG ANTWORTET: Und wir danken Ihnen, dass Sie diese persönlichen Erinnerungen mit uns teilen und Ihre Geschichte Teil der unsrigen wird.


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