Migrationsgeschichte. Die Handschuhtasche

Dr. Adelheid Rasche | 09.11.2023

Handschuhtasche der Rose Esther Fine Katzel

 

Eine feine Handschuhtasche des frühen 20. Jahrhunderts zählt seit kurzem zum Sammlungsbestand des Germanischen Nationalmuseums.

Schon auf den ersten Blick nimmt das elegant-schlichte und hochwertig hergestellte Objekt den Betrachter in den Bann: Außen aus dunkelrotem geprägtem Leder, innen mit leuchtend zyklamfarbenem Atlasgewebe gefüttert und mit Kartoneinlagen verstärkt, mittig ein kleiner Metallverschluss aus zwei ineinandergreifenden Teilen. Die längliche querrechteckige Form weist auf die Funktion hin, nämlich einem oder mehreren Paaren Handschuhen zur Aufbewahrung zu dienen. Entsprechend sind die Übergänge zwischen dem Mittelteil und den vier seitlichen Laschen weich gestaltet, damit sich die Tasche beim Schließen der jeweiligen Stärke der innenliegenden Handschuhe anpasst. Auf der oberen Decklasche wurde – vermutlich nachträglich – mit einem Stift ein Buchstabe eingeritzt, der sich als „D“ lesen lässt.


Adelheid Rasche Herr Berman, wie sind Sie auf die Idee gekommen, wegen der Handschuhtasche mit dem Germanischen Nationalmuseum in Kontakt zu treten?
 

Daniel K Berman Die Handschuhtasche kommt aus dem Besitz von Rose Esther Fine Katzel (1894–1994), meiner Großmutter mütterlicherseits. Das Objekt stammt höchstwahrscheinlich aus den 1920er Jahren, als meine Großeltern von Litauen nach Berlin gezogen sind.

In Berlin eröffnete mein Großvater Josef A. Katzel (1890-1930) Mitte der 1920er Jahre ein Bekleidungsgeschäft. Die Tasche wurde an mich vererbt. Und mich interessierten vor allem zwei Dinge: einmal, ob das Stück ausreichend wertvoll sei, um in einer Museumssammlung Eingang zu finden. Und außerdem versuchte ich herauszubekommen, ob der auf der Tasche eingestempelte Buchstabe „D“ sich irgendwie auflösen ließe. Denn mit den Vornamen in meiner damaligen Familie lässt sich dieser Buchstabe nicht übereinbringen. Es müsste also eher eine Abkürzung der Herstellermarke sein – aber welcher?

Mit diesen Fragen habe ich an verschiedene Museen in Deutschland geschrieben, und das Germanische Nationalmuseum war das erste Museum, das reagiert hat.

A Short History of Lithuania to 1569: Centennial Edition (1921–2021)
Englisch Ausgabe von Josef A. Katzel (Autor), Daniel K. Berman (Herausgeber, Einleitung)

Was wissen Sie über das Geschäft Ihres Großvaters?

Das Geschäft meines Großvaters Josef A. Katzel hieß „Krawatten-Joe“, und bot englische Herrenbekleidung und Accessoires an. Die Adresse in der Passauer Straße 1 in Berlin- Charlottenburg [heute: Wilmersdorf] war gerade gegenüber des legendären Kaufhauses KaDeWe, also an bester Adresse im Westen Berlins. Es könnte sogar sein, dass mein Großvater die Handschuhtasche im Sortiment seines Geschäftes hatte. Oder er hatte die Tasche anderswo – vielleicht im KaDeWe – gekauft, um sie meiner Großmutter zu schenken. Diese ist nie ohne Handschuhe aus dem Haus gegangen!


Warum wurde dieses Behältnis über so viele Dekaden in Ihrer Familie aufbewahrt?

Dieses Objekt gilt in unserer deutsch-jüdischen Familie als materielle Verkörperung unserer starken Liebe und Verehrung für die deutsche Sprache und Kultur. Diese Bindung ist so tief und fest, dass sie auch noch nach Generationen Bestand hat.

 

Das klingt sehr interessant, erzählen Sie uns mehr über Ihre Familiengeschichte, bitte!
 

Meine deutschen Vorfahren sind im frühen 19. Jahrhundert ins Kaiserliche Russland gezogen, wo sie weiterhin zuhause Deutsch als Familiensprache pflegten. Mein Großvater studierte in St. Petersburg am angesehenen Staatlichen Polytechnischen Institut. Dort heiratete er 1914 meine aus Litauen stammende Großmutter. Aufgrund der politischen Lage nach der Oktoberrevolution zog das Paar nach Kaunas in Litauen. Dort wurde meine Mutter geboren. Mitte der 1920er Jahre kam erneut ein Einschnitt in das Familienleben: Aufgrund eines angeblichen Spionagevorwurfs durch die litauische Regierung mussten sie Litauen verlassen und zogen nach Berlin.

 

Heute klingt es wie eine Ironie der Geschichte, dass unsere Familie mit ihrer großen Nähe zur deutschen Kultur just in der Zeit, als Hitler und die Nationalsozialisten an die Macht kamen, wieder in Deutschland Fuß zu fassen versuchte.

Alle sprachen fließend Englisch und Französisch, außerdem natürlich Russisch, Jiddisch und Deutsch, und sie hätten überall leben können. Zwar war ihnen die politische Situation in Deutschland bekannt (mein Großvater hatte Volkswirtschaft studiert), aber niemand konnte glauben, dass Hitler tatsächlich an die Macht käme. Ein weiteres Zeichen ihrer Bewunderung für die deutsche Kultur sehe ich darin, dass sie noch während des Lebens in Litauen meine Mutter in deutscher Sprache erzogen.

Bereits Anfang der 1930er Jahre verließ unsere Familie Deutschland in Richtung Frankreich, wo sie während der Okkupationszeit versteckt leben mussten. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erhielt meine Großmutter zuerst ein Visum für Kanada, später zog sie zu ihrer in den Vereinigten Staaten von Amerika verheirateten Tochter, meiner Mutter.

Die Zeit zwischen der Oktoberrevolution und dem Ende des Zweiten Weltkriegs war für Ihre Vorfahren also mehrfach von Flucht, Vertreibung und erzwungenem Neuanfang bestimmt. Was bedeutet in solchen Lebenssituationen ein Gegenstand wie das Handschuhetui?

Meine Großmutter nahm das Handschuhetui mit auf ihre Flucht, als sie Deutschland verlassen musste. Und sie behielt diesen Gegenstand bis zu ihrem Tod, denn er bedeutete ihr in zweierlei Hinsicht sehr viel.

Auf der einen Seite stand die kleine Tasche in übertragenem Sinn dafür, dass man darin sein ganzes Leben einpacken kann. Selbst in schwierigen Zeiten versuchte meine Großmutter immer, eine gewisse Normalität in ihrem oft komplizierten Alltag zu suggerieren. Und auf der anderen Seite war das Handschuhetui für meine Großmutter zeitlebens eine intensive Erinnerung an die deutsche Kultur. Sie nahm es immer mit, auch als Zeichen für ihren guten Geschmack und Stil. Beides wollte sie nie aufgeben.

Es scheint mir wichtig zu sagen, wie schwierig es für sie gewesen sein muss, diesen Gegenstand auch während des versteckten Lebens in Frankreich aufzuheben. Auch das zeigt, wie viel ihr dieses Handschuhetui bedeutet hat.

 

Sie sprachen gerade von Kultur und Geschmack: Dazu muss man wissen, dass das Tragen von Handschuhen damals für jede kultivierte Dame ein Muss war. Viele Frauen besaßen verschiedene Handschuh-Paare, die gut geschützt aufbewahrt wurden. Somit ist die Handschuhtasche auch ein Zeitzeuge für eine bestimmte Epoche. Wir werden noch versuchen herauszubekommen, was es mit dem geprägten Buchstaben „D“ auf der Oberseite auf sich hat.

Ich würde mich freuen, wenn sich über den Hersteller des Etuis noch etwas herausfinden lässt! Worüber ich jedoch besonders glücklich bin, ist die Tatsache, dass dieser Gegenstand nach einer langen Irrfahrt durch die Welt nun in der Sammlung des Germanischen Nationalmuseums ein dauerhaftes Zuhause findet.

Rund 100 Jahre lang war das Handschuhetui im Besitz meiner Familie, und es repräsentiert die Eleganz meiner stark in der deutschen Kultur verwurzelten Großmutter. Nun erscheint es mir als eine Art „poetische Gerechtigkeit“, dass das Etui nach Deutschland zurückkehrt, an seinen ursprünglichen Herstellungs- und Nutzungsort. Ich bin sehr dankbar über Ihr Interesse an diesem bescheidenen Gegenstand, der jedoch viel persönliche Geschichte zu erzählen hat.
 


Die Handschuhtasche wurde von Daniel K. Berman im August 2023 in sorgfältiger Verpackung von Kalifornien nach Nürnberg geschickt. Er legte dem Paket diese Notiz bei:

Nearly a century after she was obliged to flee, under most difficult cirumstances, Grandma makes the trip back to Germany – where her beloved husband, Josef, remains buried – to accompany her glove case to its point of origin. Heartfelt thanks to the German National Museum for giving it a welcoming home.

 


Das Germanische Nationalmuseum widmete sich 2023 Geschichten und Zukunft der Migration. und erzählte in seiner Jahresausstellung viele persönliche Geschichten. Mit dieser Neuerwerbung fügen wir dem Thema einen weiteren Baustein an.

Eine umfangreiche Videosammlung bietet dazu neue Perspektiven auf Exponate und Ausstellungen.


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