Neue Perspektiven auf das 19. Jahrhundert

Dr. Karin Rhein | 29.05.2025


Imposante und inhaltsreiche Ankäufe für die zukünftige Ausstellung „19. Jahrhundert“


Im Germanischen Nationalmuseum gewinnt die Präsentation des 19. Jahrhunderts zukünftig deutlich an Relevanz. Die neue Dauerausstellung wird ab 2030 auf den vier Etagen des sogenannten Südbaus zu sehen sein. Zuvor saniert das Berliner Büro von David Chipperfield Architects das Gebäude.

Nationen- und Identitätsbildung, Umbrüche, Fortschritt und Geschichtswahrnehmung, Dynamik und Beharrung, Zeitgefühl und Weltanschauungen, Medien, Konsum, Alltag, Kunst und Kultur werden anhand einer sammlungsübergreifenden Objektauswahl beleuchtet. Außerdem soll deutlich werden, dass zahlreiche Themen und Entwicklungen dieser Zeit unser Leben bis heute prägen.

Bei den Planungen zur Neupräsentation werden hin und wieder Lücken im Bestand bewusst. Gezielte Ankäufe tragen zur stetigen Vervollständigung der Sammlung und neuen Perspektiven auf das komplexe 19. Jahrhundert bei. 2024/2025 konnten mit Hilfe einer privaten Stiftung drei eindrucksvolle und spannende Objekte erworben werden.

Alle drei Werke sind auf ihre Weise ungewöhnlich und überraschend. Sie verknüpfen große künstlerische und kunsthandwerkliche Leistung mit Zeitgeschichte, Lebensläufen, Wissenschafts- und Technikgeschichte.


Wenn Eisenbahn und Kölner Dom auf einer Vase zusammentreffen

 

Prunkvasen wurden gerne als Hof- oder Staatsgeschenke überreicht. Die neu erworbene prächtige Vase war hingegen 1867 das Abschiedsgeschenk der Köln-Mindener Eisenbahn-Gesellschaft an ihren aus dem Amt scheidenden Aufsichtsratsvorsitzenden Heinrich von Wittgenstein.

1843 war diese Eisenbahn-Gesellschaft in Köln gegründet worden, um das Ruhrgebiet weiter zu erschließen und eine Verbindung zwischen dem Rheinland und den norddeutschen Seehäfen sowie nach Berlin herzustellen.

Johann Heinrich Franz Freiherr von Wittgenstein (1797-1869) gehörte einer einflussreichen Kölner Familie an. Am Appellationsgerichtshof und für die Armenverwaltung arbeitet er als Jurist. 

Daneben beteiligte er sich an zahlreichen Wohlfahrts-, Kultur- und Wirtschaftsprojekten seiner Heimatstadt. Zwei davon stellen die Bilder auf der Vase zur Schau. Ausgeführt hat sie der Porzellanmaler Clemens Eugen Jahn (1821-1879).

Die Vorderseite zeigt den Blick auf den Kölner Dom im Zustand um 1860. Seine bauliche Vollendung war eines der großen nationalen Projekte des 19. Jahrhunderts. 1842 hatte man den Grundstein für den Weiterbau gelegt. Im selben Jahr wählte der Zentral-Dombau-Verein Wittgenstein zu seinem ersten Präsidenten.

Die andere Seite der Vase zeigt die „alte Dombrücke“ in Köln, die 1859 als Eisenbahn- und Straßenbrücke über den Rhein fertiggestellt worden war und die Bahn nun den Fluss überqueren ließ. Auftraggeber war König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen. Sein Reiterstandbild von Gustav Blaeser ist auf der Brücke zu sehen. Die Nutzungsrechte hatten die Köln-Mindener Eisenbahn-Gesellschaft und die Rheinische Eisenbahn-Gesellschaft.

Die Vase verbindet in der neuen Dauerausstellung die Themen Eisenbahn und Industrialisierung mit bürgerlich-unternehmerischem Engagement sowie zusätzlich dem Nationalprojekt Kölner Dom, zu dem es bereits einige kleinere Objekte in der Sammlung gibt.

 


Eine Silberburg als Schweizer Tafelzier

 

In Zürich, Ende des 19. Jahrhunderts, durfte es zum Hochzeitstag ruhig ein bisschen mehr sein: etwas mehr Landesgeschichte, Heimatverbundenheit und Silber. Zur Zierde seiner Festtafel beauftragte der Kaufmann Carl Lang-Schleuniger bei dem Silberschmied Jean Baltensperger (1854-1908) eine stattliche Miniaturausgabe der Burgruine Stein über der Stadt Baden.

Mühelos erkennt man die Mauern der Burg, die kleine Sankt-Nikolaus-Kapelle, die Weinreben an den Hängen, die schmalen Wege, Treppen und Geländer.

Am Sockel sind auf der einen Seite die Wappen und Herrschaftsdaten der ehemaligen Burgherren, unter ihnen die „Herzöge von Habsburg-Oesterreich“, angebracht.

Auf der anderen Seite sieht man die Wappen der „acht alten Orte“: Zürich, Bern, Luzern, Uri, Schwyz, Unterwalden, Glaris und Zug. Seitlich findet man die Bezeichnung: Der Stein zu Baden / 1415 & 1712 / zerstört“, gegenüberliegend zwei Wappen in Verbindung mit der Jahreszahl 1881.

Der Tafelaufsatz wurde wahrscheinlich 1881 zur Hochzeit von Carl Lang-Schleuniger und seiner Frau Thekla in Auftrag gegeben.

Carl Lang (1846-1908) hatte sich Anfang der 1870er Jahre in Zürich niedergelassen und dort das Warenhaus „Groß-Bazar Storchen“ eröffnet. Das Ehepaar betätigte sich mäzenatisch, unterstützte Kirchenbauten, förderte Künstler und gründete ein Waisenhaus.

Offensichtlich wollte der Auftraggeber seine Verbundenheit mit der Stadt Baden und seinen patriotischen Geist demonstrieren. Baden spielte in der Geschichte der Schweiz und für die frühen Bündnisse zwischen den alten katholischen und den jüngeren liberalen Orten eine Schlüsselrolle. Zahlreiche Tagsatzungen fanden hier statt. Dies waren die Versammlungen, in denen sich die Vertreter der eidgenössischen Orte berieten.

Auch der Ruine Stein über der Stadt Baden kommt eine besondere Bedeutung für das Nationalbewusstsein und die Nationenbildung der Schweiz zu. Sie beherbergte einst das Hausarchiv der Habsburger. 1415 eroberten die Eidgenossen auf Anweisung Kaiser Sigismunds den habsburgischen Aargau. Die Burg wurde eingenommen und zerstört. 1712 erfolgte ein zweiter, nun endgültiger Abbruch der Festungsanlage. 1837 gestaltete man die Reste zum romantischen Aussichtspunkt um.

In der neuen Dauerausstellung ergänzt der Tafelaufsatz das für das 19. Jahrhundert wichtige Thema der Nationenbildung um eine Schweizer Perspektive: Er zeigt die politischen Hindernisse und den gemeinschaftlichen Willen im schweizerischen Nationenbildungsprozess vom Spätmittelalter bis 1848. Außerdem bietet das Objekt Verbindungen zur Nürnberger Gold- und Silberschmiedekunst um 1500, einem einzigartigen Sammlungsbestand des GNM.


Ein wissenschaftlicher Weltstar auf der Weltausstellung in Philadelphia

Der schon ältere Alexander von Humboldt (1769-1859) steht unerschütterlich und wetterfest mit Stiefeln und in einen Kapuzenmantel gehüllt auf einem Felsen. In seiner Hand hält er ein Deklinatorium zur Messung des Erdmagnetfeldes.

Die außergewöhnliche Statue mit herrlichen kleinen Details stammt von dem Mailänder Künstler Filippo Biganzoli (1823-1894), der unter anderem für den Mailänder Dom tätig war. Biganzoli schuf die Skulptur für die „Centennial International Exhibition“ in Philadelphia 1876. Es war die erste Weltausstellung auf amerikanischem Boden zum 100. Jubiläum der Unabhängigkeitserklärung. 1804 hatte Humboldt selbst die Stadt besucht.

Humboldt war Naturforscher, Kosmopolit und Vordenker. Seiner Überzeugung nach, dass alles mit allem zusammenhängen würde, beschäftigte er sich mit Geologie, Botanik, Zoologie, Klima, Ozeanographie, Umweltfragen und vielem mehr. 

Mit seiner Südamerika-Expedition und einem anschließenden Aufenthalt in den Vereinigten Staaten zwischen 1799 und 1804 wurde er international bekannt. Anschließend wirkte er in Paris und Berlin. 1829 unternahm er eine zweite große Expedition durch Russland. In seinen späteren Jahren arbeitete er vor allem an seinem das Weltwissen der Zeit versammelnden Werk „Kosmos“.

Humboldt setzte neue Maßstäbe für die Aufzeichnung von Daten und das Zusammenführen von Erkenntnissen verschiedener Disziplinen. Er verband Kunst und Naturwissenschaften miteinander und beeinflusste weltweit Künstler und Wissenschaftler wie Johann Wolfgang von Goethe, Charles Darwin, Ernst Haeckel oder Henry David Thoreau. – Endlich ist er nun auch im GNM präsent.

Diese drei neuen Objekte eröffnen spannende Perspektiven für die zukünftige Dauerausstellung und werden in den kommenden Monaten weiterhin intensiv erforscht. Bereits jetzt sind sie fest in die Gestaltungskonzepte integriert, um den Besucherinnen und Besuchern ein noch faszinierenderes Erlebnis zu bieten. 

Wichtiger Hinweis: Die Skulptur Alexander von Humboldts wird bereits im Jahr 2026 in der Sonderausstellung Genie, Idol, Star. Verehrung im 19. Jahrhundert erstmals zu sehen sein – ein Highlight und von großer Bedeutung für diese Zeit.


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