Orakelknochen und Hologramme

Benjamin Rowles M.A. | 02.04.2021

Nürnberg, im Oktober 2020: Wir erwarten hohen Besuch. Die Gäste reisen aus dem fernen Taiwan an. Sie waren bisher noch nie in Deutschland. Manche Menschen haben schon von ihnen gehört und wünschen sich sehnlich, sie einmal persönlich zu treffen. Andere wissen vielleicht noch gar nicht von ihrer Existenz, jedoch werden sie staunen, wenn sie die Gäste bei einem Besuch im GNM kennenlernen.
Doch leider überschattet Ungewissheit unsere Vorfreude. Sind die Landesgrenzen im November aufgrund der Pandemie geschlossen? Kann die minutiös geplante Anreise überhaupt stattfinden? Was sollen wir tun, wenn unser nahezu unersetzlicher Gast in Taiwan bleiben muss?


Die Zukunft bleibt ungewiss

Diese Gedanken plagten das Ausstellungsteam von Zeichen der Zukunft rund um Kuratorin Marie-Therese Feist. Jahrelang hatten sie an dem Projekt gearbeitet. Die ambitionierte Ausstellung soll verschiedene Arten der Zukunftsvorhersage beleuchten, eine Praxis, die seit Entstehen der Schrift in allen menschlichen Kulturen nachweisbar ist.

Neben dem Internationalen Kolleg für Geisteswissenschaftliche Forschung Schicksal, Freiheit und Prognose (FAU Erlangen-Nürnberg) sowie der Universität Münster beteiligten sich daran auch zwei Forschungseinrichtungen aus Taiwan: Das National Museum of Taiwan History (Tainan), sowie das Institute of History (IPH).


Ein Hologramm hilft


Dürfen wir unsere Gäste in Nürnberg vorstellen? Zwei Orakelknochen aus der Sammlung des IHP, die ca. 3.000 Jahre alt sind und zu den ältesten Zeugnissen der chinesischen Schrift gehören. Die Zeichen auf den Orakelknochen zeigen anschaulich, wie die chinesische Schrift aus Piktogrammen entstand.

Doch mindestens genauso interessant ist der Inhalt der Aufzeichnungen. Wir erfahren, was die Herrscher der Shang-Dynastie über die Zukunft wissen wollten, und lernen auf diesem Wege ihre Kultur kennen. Vor Entdeckung der Orakelknochen im späten 19. Jahrhundert war selbst die Existenz der Shang-Dynastie noch umstritten. Inzwischen wissen wir, dank der Inschriften, vieles über sie.

Ihre Zukunftsfragen betrafen Krieg und Frieden, Krankheit und Gesundheit, Ackerbau, korrektes Opfern, Wetter, Geburten, und vieles mehr. Die Orakelknochen waren gleichzeitig Werkzeuge, mit denen Wahrsager im Auftrag von Königen die Zukunft befragten, als auch Dokumentationsstücke, auf denen sie den Prozess festhielten – manche der Artefakte berichten sogar, ob die Prognose letztendlich eintrat. Kurz gesagt: Es wäre ein großer Verlust für die Ausstellung gewesen, hätten die Leihgaben nicht anreisen können.

Welche Alternative hätte es für die Präsentation des Originals gegeben? Das Germanische Nationalmuseum verfolgt schon länger eine Digitalisierungsstrategie und plante, zwei holographische Displays anzuschaffen. Nun war der ideale Moment gekommen, um dieses Vorhaben umzusetzen. Hologramme ermöglichten in jedem Falle die Präsentation der Orakelknochen, welche so wichtig für die Erzählung der Ausstellung sowie die vorangegangene Forschungsarbeit sind. Die Projektionen erlauben, das Objekt mit seinem ganzen Detailreichtum zu erkunden, wie es am Original nicht möglich ist.

Die Artefakte sind dünn, beidseitig beschriftet und fragil. Sie müssen gut gesichert in einer Vitrine liegen. Durch dreidimensionale Projektionen können wir sowohl ihre vollständige Aufschrift, als auch ihre charakteristische, leicht gewölbte Form sichtbar machen.


Geschichte „begreifen“


Um ein solches Hologramm anzufertigen, braucht man idealerweise einen 3D-Scan des Objekts. Glücklicherweise konnte der Leihgeber, das IHP, einen der beiden Orakelknochen für uns digitalisieren. Da der Prozess – je nach Methode – sehr aufwendig und zeitintensiv sein kann, waren wir sehr dankbar für die kurzfristige Priorisierung. Mit dem 3D-Modell kann man jedoch nicht nur eine Projektion erzeugen.

Das IHP speist seine Scans auch auf der Plattform Sketchfab ein, wo sie jeder via Browser von allen Seiten betrachten, hineinzoomen, und die erklärenden Annotationen lesen kann. Die Betrachter*innen können die Objekte so viel besser begreifen – visuell, räumlich, und inhaltlich.

Vielleicht haben Sie es im GNM_Blog bereits gelesen: Das GNM betreibt ebenfalls einen Sketchfab-Account. In der Zukunft möchten wir unsere 3D-Modelle sogar zum kostenlosen Download und zur Weiterverwendung freigeben. Die Nutzer*innen könnten diese Daten frei und kreativ nutzen: 3D-Drucke anfertigen, die Objekte in einem Spiel oder Design-Projekt einsetzen, eigene Forschungsvorhaben voranbringen, oder auf eine Weise verwenden, die wir selbst noch gar nicht vorhergesehen haben.

Zurück zu den Orakelknochen. Was kann uns das digitale 3D-Modell über Inhalt und Bedeutung des 3.000 Jahre alten Artefakts verraten? Sehen Sie sich hier das Objekt einmal von allen Seiten an.


Feuer, Risse und Zinnober


Beide Seiten des Objekts sind mit eingeritzten Schriftzeichen versehen. Man erkennt, dass die Gravur noch rotes Pigment (Zinnober) enthält. Eine Aufschrift ohne Gravur wäre heute wohl vollständig verschwunden. Während die konkave Seite eine poröse Oberfläche aufweist, ist die konvexe Seite glatt. Bei diesem „Knochen“ handelt es sich um einen halben Schildkröten-Bauchpanzer. Das erklärt auch seine leichte Wölbung. Man nennt dieses Material auch Plastron. Betreibt man damit Wahrsagung, so spricht die Wissenschaft von Plastromantie. In anderen Fällen verwendeten die Shang-Wahrsager Schulterknochen von Rindern. Da das Schulterblatt auf lateinisch Scapula heißt, spricht man auch von Scapulomantie. Egal welches der beiden Materialien zum Einsatz kam, der Ablauf der Zukunftsbefragung war vermutlich gleich. Sie war vertraulich und fand zwischen dem König und dem Wahrsager statt. Der König stellte eine Frage an die Zukunft, die er als Feststellung (charge) formulierte. In manchen Fällen wurde die Feststellung einmal positiv und einmal negativ ausgedrückt (paired test). Der Wahrsager bohrte daraufhin Kerben in den Orakelknochen und setzte sie großer Hitze aus. Weil dabei Feuer zum Einsatz kam, zählt man diese Methode der Zukunftsvorhersage auch zur Pyromantie. Das Material dehnte sich unter Hitzeanwendung aus und es entstanden Sprünge. Im 3D-Modell kann man die Sprünge besser auf der konvexen, glatten Seite erkennen. Das Piktogramm eines solchen Knochenrisses ist übrigens der Ursprung des chinesisches Schriftzeichens 卜 (bu), welches „weissagen“ bedeutet.
Ein Wahrsager deutete die Sprünge als „günstig“ oder „ungünstig“, woraus der König seine Prognosen, Handlungen oder Befehle ableitete. Danach hielt man das Prozedere schriftlich auf dem Orakelknochen fest. In seltenen Fällen ist sogar dokumentiert, welches Ereignis am Ende tatsächlich eintrat. Nach der Nutzung wurden die Orakelknochen zu hunderten und tausenden vergraben. Bei ihrer Wiederentdeckung – die wichtigsten Grabungen fanden von 1899 bis 1937 nahe des heutigen Anyang statt – stieß man auf umfangreiche Depots. Der vorliegende Orakelknochen Bing Bian 207-208 ist aus dieser Vielzahl ein ganz besonderes Stück, da er die vier „idealen“ Schritte einer Zukunftsvorhersage lückenlos dokumentiert.

Eine vollständige Weissagungsinschrift enthielt […] das Vorwort (qianci 前辭, Zeitpunkt der Weissagung und Name des Wahrsagers, der die Orakelprozedur ausführt), den Auftrag (mingci 命辭, die bei der Weissagung gestellte Frage), die Prognose (zhanci 占辭, die Vorhersage des Shang-Königs auf der Grundlage des göttlichen Omens) und der Nachweis (yanci 驗辭, was sich tatsächlich bewahrheitete). Da nicht nur die Nachweise selten erwähnt sind, sondern die meisten Inschriften auch keine Prognosen des Königs nennen, lässt sich schlussfolgern, dass die meisten Aufträge vermutlich unbeantwortet blieben. Unter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern führte dies zu heftigen Debatten darüber, ob der Weissagungsauftrag als Frage oder Aussage formuliert wurde. Erschwerend kommt hinzu, dass viele Orakelknochen nach der Weissagung möglicherweise nicht graviert, sondern mit schwarzer Tinte oder Zinnober beschriftet wurden.
Aus: Yung-Yung Chang: Orakelknochen der Shang-Dynastie. In: Feist, Marie-Therese, Lackner, Michael und Ludwig, Ulrike (Hrsg.): Zeichen der Zukunft: Wahrsagen in Ostasien und Europa. Nürnberg 2021, S. 158-165.

Sehen Sie sich nun noch einmal das 3D-Modell an. Die Annotation Nr. 3 enthält das Vorwort, den Auftrag sowie die Prognose des Königs. Es geht um das Wetter und um rituelles Opfern mit dem you-Schnitt. Die Shang-Könige opferten nicht nur Tiere, sondern auch Menschen. Dadurch hofften sie, die Ahnen oder Gottheiten gütig zu stimmen und das Schicksal zu ihren Gunsten zu wenden. Auf der Rückseite, bei der Annotation Nr. 7, ist der zugehörige Nachweis zu lesen. Das Opfer wurde zwar in diesem Fall letztendlich nicht durchgeführt; die Vorhersage, dass es Donner geben würde, bewahrheitete sich aber.

Zugegeben: Diese kleine Einführung kratzt nur an der Oberfläche der wirklich faszinierenden Shang-Wahrsagung, deren Erforschung noch längst nicht abgeschlossen ist. Es wäre wirklich ein großer Verlust gewesen, hätte der „hohe Besuch“ nicht nach Nürnberg reisen können. Zum Glück hatten wir einen Notfallplan – und zum Glück musste er nicht in Kraft treten. Stattdessen ergänzen und erhellen unsere technologischen Hilfsmittel das Original, welches Sie nun mit eigenen Augen sehen können.

Im Ausstellungskatalog „Zeichen der Zukunft“, erhältlich in unserem Onlineshop oder als Open-Access-Version, können Sie noch mehr über die Orakelknochen erfahren. Um sich einen kurzweiligen Überblick über die gesamte Ausstellung zu verschaffen, ist unsere Digital Story zu empfehlen. Wir laden Sie außerdem herzlich zu unseren Online-Museumsgesprächen ein, wo Sie unseren Expert*innen auch Fragen stellen können.

Summary of the GNM_Blog “Of Oracle Bones and Holograms”

The special exhibition „Signs of the Future. Divination in East Asia and Europe” at the GNM in Nürnberg heavily relies on international loans to tell its story. Two Oracle Bones from the IHP, Academia Sinica in Taipeh were among the most anticipated objects. Not only are they the oldest featured artefacts, but they also clearly illustrate an ancient, self-documenting divination practice from East Asia.

Because of the ongoing digitization efforts at the GNM, it was possible to purchase a hologram display for the exhibition. In case the national borders would have closed by November, a 3D projection would have served as a substitute for the original artefacts. Luckily, the Oracle Bones arrived as anticipated, which means that the rotating hologram now serves as an added benefit. It enables visitors to see the inscriptions on both sides of the object, as well as its distinctive curvature, illustrating that the “bones” are actually made of turtle plastron.

The IHP kindly scanned and 3D-modelled the Oracle Bone Bing Bian 207/208 for this purpose. At the same time, they uploaded the model to Sketchfab, where users around the world can inspect, rotate, and zoom in on the object. The model has annotations, courtesy of the IHP, which translate the Oracle Bone’s inscriptions into Mandarin, English and German. The GNM embedded the Sketchfab model in its accompanying edutainment website, the DigitalStory.

All of the aforementioned digital offerings serve to illuminate the complex process of plastromancy. Since the artefacts are thin and fragile, they have to lay flat inside a display case, obstructing the view of half of the inscriptions. However, the Oracle Bone Bing Bian 207/208 is particularly special and rare for documenting the complete process of Shang plastromancy. Annotation no. 3 in the Sketchfab model points to the place where the preface (qianci前辭, the time of divination and name of the diviner), the charge (mingci 命辭, the question asked), and the prognostication (zhanci 占辭, the prediction proclaimed by the Shang king on the basis of the divined omen) stand. Annotation no. 7 on the backside points to the verification (yanci 驗辭, what actually came true). It is quite rare to see a complete record of all four steps of the Shang divination process. This is why the example is highly educational, and why it is important to make both sides of the object visible.

Aided substantially by our partners at the IHP, the GNM uses digital renderings to support real-life objects. By doing so, the GNM aims to ideally disseminate the insights provided by the “once in a lifetime” loans from Taipeh.


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