Schicksal Emigration

Dr. Claudia Valter | 29.06.2021

Das Werk von Stefan Moses zeichnet sich sowohl durch Konzept-Fotografie aus freien Projekten als auch durch fotojournalistische Arbeiten aus. In seiner 2013 veröffentlichten Serie "Deutschlands Emigranten" stehen sich Fotografien aus beiden Bereichen gleichberechtigt gegenüber. Die Folge spiegelt ein großes Interesse am Menschenschicksal Emigration mit seinen unterschiedlichen Facetten.


Moses‘ persönliches Schicksal

Mit Blick auf seine Biografie nannte Stefan Moses sich selbst einen „potenziellen Emigranten“. Seine in der Studioausstellung vorgestellte Fotoserie umfasst Porträts bekannter Persönlichkeiten, die mit Beginn der NS-Diktatur 1933 aus politischen oder rassistischen Gründen verfolgt wurden und ins Exil flohen. Die Fotografien zeigen vor allem Schriftsteller*innen, bildende Künstler*innen, Schauspieler*innen, Politiker und andere Intellektuelle.

Insgesamt waren es rund eine halbe Million Menschen aller Gesellschaftsschichten, die damals im Ausland um Asyl baten. Der weitaus größte Teil von ihnen hatte jüdische Wurzeln. Nur wenige kehrten nach dem Zweiten Weltkrieg zurück, die meisten zogen ihr neues Lebensumfeld dem Land ihrer Peiniger vor.

Stefan Moses wurde 1928 in Liegnitz als Sohn eines jüdischen Vaters und einer nichtjüdischen Mutter geboren. Er überlebte die Zeit des Nationalsozialismus in Schlesien, die letzten sechs Monate interniert in einem Zwangsarbeitslager. Nach dem Zweiten Weltkrieg flüchtete er zunächst nach Thüringen, wo er eine in Breslau begonnene Fotografenlehre beendete. München wurde ab 1950 zu seiner Wahlheimat. Eine Reihe von Fotoreportagen für den dort ansässigen Kindler & Schiermeyer Verlag legte den Grundstein für seine Karriere als einer der gefragtesten Fotografen der BRD. Auf die Frage, warum er nicht wie die meisten jüdischen Überlebenden nach Kriegsende ausgewandert sei, antwortete Moses:

Gegenwart und Vergangenheit musste ich ‚klären‘. Ja, auch für mich gab es jetzt neue Freiheiten, neue Identität, neue Selbständigkeit, neue Gedanken. Ich war neugierig auf all das. Die Zukunft hatte schon begonnen, und ich wollte in Deutschland bleiben und dieses Land und die Mitmenschen kennen lernen.


Architekturschicksale

Die Reihe der Porträts wird in „Deutschlands Emigranten“ sinnfällig ergänzt durch einzelne Architekturaufnahmen. Hierzu gehört eine Ansicht der zerstörten Münchner Villa des Schriftstellers Thomas Mann. Als entschiedene Gegner des Nationalsozialismus emigrierten Thomas und die aus einer jüdischen Familie stammende Katia Mann 1933 zunächst in die Schweiz, später in die USA. Der Abschied von Haus und Heimat fiel ihnen nicht leicht. Rund 20 Jahre lang hatte das Ehepaar mit seinen sechs Kindern in der Villa am Herzogpark (damals Poschingerstraße 1) gelebt, hier entstand unter anderem der Roman „Der Zauberberg“.

Mit der offiziellen Ausbürgerung Thomas Manns enteigneten ihn die Nationalsozialisten auch seines Wohnhauses. Die 1944 durch einen Bombenangriff schwer getroffene „Poschi“ beherbergte in der unmittelbaren Nachkriegszeit notdürftig zahlreiche Displaced Persons, vor allem russische und ukrainische Emigranten.

München und seine weitere Umgebung waren zu einer Art Sammelpunkt für die Überlebenden des Holocaust aus osteuropäischen Ländern geworden. Thomas Mann hatte jedoch wenig Verständnis für die „wilden Bewohner“. Nachdem er sich 1951 persönlich von dem „entstellten“ Zustand überzeugt hatte, wurde die Villa abgerissen und das Grundstück verkauft. Auf der Fotografie von Stefan Moses erscheint das Gebäude zusammen mit den unbelaubten Bäumen im Vordergrund wie ein drohendes Mahnmal gegen den Krieg.

Moses‘ Ansicht der ruinösen Architektur wurde im August 1950 in einem Artikel über das Thomas Mann-Haus in „Die Neue Zeitung. Eine amerikanische Zeitung für die deutsche Bevölkerung“ erstmalig veröffentlicht. In hoher Auflage gedruckt galt sie als eines der einflussreichsten Blätter der Nachkriegsjahre. Mehrere der von Moses später porträtierten Schriftsteller waren als Autor*innen für „Die Neue Zeitung (NZ)“ tätig, z.B. Ilse Aichinger, Stefan Heym oder Hermann Kesten. Es ist gut vorstellbar, dass die NZ früh das Interesse des Fotografen an diesen Emigrant*innen weckte.


Anonyme Schicksale

Nicht nur die Architekturaufnahmen stechen aus der Reihe „Deutschlands Emigranten“ heraus. Eines der bewegendsten Bilder der Serie zeigt eine Gruppe Senior*innen aus einem jüdischen Wohnstift in Würzburg.

Die eng beieinanderstehenden, hochbetagten Männer und Frauen schauen mit teils skeptischem, teils interessiertem Blick in die Kamera. Man ahnt die Überzeugungsarbeit, die Moses für die Zustimmung zu dieser Aufnahme leisten, das Vertrauen, das er gewinnen musste. Die Identität der Porträtierten wird nicht offenbart. Sie repräsentieren vielmehr die überwiegende Mehrheit deutsch-jüdischer Emigrant*innen, deren individuelles Schicksal nicht überliefert ist.

Das Gruppenporträt entstand für die Reportage „Juden in Deutschland“ des Wochenmagazins Stern. In den 50er und 60er Jahren war Stefan Moses erfolgreich als Fotojournalist für verschiedene Magazine wie Revue, Das Schönste und insbesondere für den Stern tätig. Diese illustrierten Zeitschriften erreichten ein Massenpublikum, denn in der Wirtschaftswunderzeit der BRD war das Interesse an Bildnachrichten groß und die Bedeutung des Fernsehens wuchs erst langsam. Noch in den 60er Jahren druckten die Verlage den überwiegenden Teil der Bilder in Schwarz-Weiß.

In der November-Ausgabe des Stern von 1964 ist dem Gruppenporträt eine nahsichtige Aufnahme der jungen Rachel Salamander gegenübergestellt, die heute als Literaturwissenschaftlerin und Gründerin der „Literaturhandlung“ bekannt ist. Beide Fotografien illustrieren Titel und Einleitungstext, der die Überalterung der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland beklagt: Unter den Remigranten seien überwiegend ältere Menschen - die Jugend wandere aus.


Bücherschicksale

Rachel Salamander wurde 1949 in einem Displaced Persons Camp in Deggendorf geboren. Sie ging jedoch nicht wie in dem Stern-Bericht angekündigt nach Israel, sondern blieb wie Moses Teil des jüdischen Lebens in Deutschland. Mit ihren Buchhandlungen engagierte sich Salamander seit den 80er Jahren für jüdische Literatur und Publikationen zum Judentum.

Ich wollte all jene wieder einbürgern, die vertrieben und verbrannt worden waren.

In der „Emigranten“-Serie ist sie links im Hintergrund auf der Fotografie einer Signierstunde mit Marcel Reich-Ranicki in München zu sehen. Das Bild entstand wohl während der Arbeit für eine Reportage über den prominenten Literaturkritiker. Reich-Ranicki gilt als Beispiel für die erfolgreiche Remigration jüdischer Kulturschaffender nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Nationalsozialisten wiesen ihn 1938 nach Polen aus; auf seine Flucht aus dem Warschauer Ghetto folgte bis Kriegsende ein Leben im Versteck. 1958 kehrte er nach Deutschland zurück und wurde nicht zuletzt durch seine Buchbesprechungen in der Fernsehsendung Das Literarische Quartett einem breiteren Publikum bekannt.

 


Künstlerschicksale


Parallel zu seiner journalistischen Tätigkeit begann Stefan Moses bereits Anfang der 60er Jahre unabhängig zu arbeiten. Ab 1968 spezialisierte er sich als freiberuflicher Fotograf zunehmend auf die Porträtfotografie. Seine verschiedenen konzeptuellen Bilderserien verfolgte er oft über Jahrzehnte.

Die beeindruckende Aufnahme von Meret Oppenheim mit Vogelmaske entstand 1982 im Atelier der Künstlerin in Bern. Sie ist Teil der Folge „Künstler machen Masken“, für die Moses vor allem deutsche Maler*innen, Bildhauer*innen, Komponisten etc. mit einer spontan selbstgefertigten oder -gewählten Maskierung fotografierte. Die Vogelmaske verdeckt Oppenheims Gesicht vollständig und spielt mit ihrer Rolle als eine der wichtigsten Vertreterinnen des Surrealismus.

Bevor ihm diese Aufnahme gelang, dürfte Stefan Moses in Bern mehrfach auf den Auslöser gedrückt haben. So kennzeichnet das Anfertigen von Bildsequenzen nicht nur seine Arbeitsweise, sondern es schuf die nötige Verbindung zwischen Modell und Fotograf. Die Aufnahme der nachdenklich blickenden, rauchenden Meret Oppenheim (im Hintergrund ist ihre Skulptur „Sechs Wolken auf einer Brücke“ zu erkennen) ist vermutlich in der Vorbereitungsphase des Maskenbildes entstanden.

Mit der Ausstellung und Veröffentlichung von „Deutschlands Emigranten“ wurde das Bild bekannt: Die in Berlin als Tochter eines jüdischen Arztes geborene Meret Oppenheim übersiedelte mit 19 Jahren nach Paris, um Malerin zu werden. 1937 emigrierte sie in die Schweiz.

Stefan Moses vereinte ausgewählte Porträts aus verschiedenen Schaffensphasen in „Deutschlands Emigranten“. Damit stellte er die Fotografien in einen neuen Kontext, der aktueller scheint denn je: Gegenwärtig sind über 70 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht – jeder 110. Mensch ist betroffen. Rund zwei Drittel der Porträts widmete er jüdischen Kulturschaffenden, deren Schicksal er besondere Empathie entgegenbrachte. Sein Maxime: "Die Fotografie ist lebenslange Erinnerungsarbeit."

 

Die Studioausstellung im Germanischen Nationalmuseum leistet einen Beitrag zum Festjahr 2021 Jüdisches Leben in Deutschland.


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