Die erste Erwerbung für die neue Sammlung war Lesser Urys Selbstbildnis aus dem Jahr 1881. Dr. Wulf Schadendorf, der damalige Konservator der Abteilung des 19. und 20. Jahrhunderts, sah in diesem Ankauf einen wegweisenden Schritt für den Sammlungsaufbau. Die Bedeutung des Gemäldes habe in seiner "totalen Aneignung modernster malerischer Auffassungen" gelegen. So stand es programmatisch für den Aufbruch des Museums. Das Leben des Künstlers und die Rezeption seines Werkes bis in die 1960er Jahre hinein boten dabei die Möglichkeit, diverse Aspekte der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zu vermitteln.
Lesser Ury bahnte sich seinen Weg zur modernen Malerei selbst. Zwar war er zeitweise an Kunstakademien, u.a. in Kassel, Düsseldorf, München und Brüssel eingeschrieben, doch dort konnte er nicht das finden, wonach er strebte. Und so zog es ihn abseits der Akademien nach Paris, dem Zentrum des französischen Impressionismus. Vor allem die Malerei Èdouard Manets, einem Wegbereiter der Moderne, inspirierte ihn dazu, den Akademismus und Realismus seiner Zeit zu überwinden. Kurz nach seinem Aufenthalt in Paris, malte er im Alter von 20 Jahren sein später für die Sammlung des GNM erworbenes Selbstporträt in Brüssel.
Urys Zeitgenossen tadelten ihn mit Worten wie "Sie malen ja wie Manet!" Ein hartes Urteil für die damalige Zeit – heute jedoch ein Lob seiner künstlerischen Fähigkeiten. Der Kunstkritiker Adolph Donath schrieb 1922 über das Porträt: "Ein bisher unbekanntes Selbstbildnis von Lesser Ury, das 1881 in Brüssel gemalt ist, zählt zu den schon klassischen Meisterstücken moderner Malerei." Und so sprach auch Schadendorf 1965 seine Anerkennung aus: "Die kühne, mit dem Spachtel modellierende Malerei, die kräftige Formen mit scharfer Lichtführung verbindet, kann mit Degas und Manet verglichen, an Cézanne gemessen werden." Für ihn war das Werk ein Zeugnis des "fruchtbaren Austausches deutscher Maler mit Paris", und er lobte es als ein "wahrhaft europäisches Bildnis".
In der Ausstellung hing Urys Selbstporträt neben den Werken seiner Zeitgenossen, den Impressionisten Max Slevogt, Lovis Corinth und Max Liebermann. Als Vertreter der "Berliner Secession" wandten auch sie sich gegen den akademischen Kunstbetrieb und widmeten sich dem Alltäglichen.
Kommentare
05.07.2024 | Manfred Schleyer
Sehr schön etwas über das GNM selbst zu erfahren, vielen Dank. Nur die Fotos: bis die vollständig angezeigt werden - da braucht es schon viel Geduld, und zwar sofort ...