#VW-Kolleg | Moderne Malerei

Autor*innen unseres Forschungskollegs | 01.08.2020


Moderne Malerei am Germanischen Nationalmuseum

Laura Förster M.A.

Vor 55 Jahren fand die moderne Malerei ihren Weg in die Ausstellungsräume des Germanischen Nationalmuseums. Das Museum öffnete sich in Richtung Gegenwart und gründete die Sammlung "Kunst und Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts". Die Museumsverantwortlichen verschoben die Sammlungsgrenze, die bis dahin beim Jahr 1800 lag, in die 1920er Jahre. Sie wollten verhindern, dass "das Museum nicht selbst zu einem historischen Monument erstarre", so der damalige Generaldirektor Dr. Erich Steingräber. Ziel war es, sich nun auch mit dem modernen Menschen auseinanderzusetzen und eine "Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart" zu schlagen.


"Deutsche Malerei im 19. Jahrhundert" – eine Ausstellung feiert Jubiläum

Die Verbindung zum modernen Menschen zeigte sich vor allem in der Darstellung des Alltäglichen. Einblicke in die moderne Lebenswelt um 1900 erhielt man beispielsweise durch Werke von Albert Weisgerber und Carl Moll: Im Kaffeehaus sitzend, vertieft sich Weisgerbers "Zeitungsleser" mit Zylinder und Zigarre im Mund in seine Lektüre, während vor dem Fenster das Großstadtleben tobt. Molls "Interieur (Gedeckter Tisch)" erlaubt einen Blick in das private Esszimmer seiner Doppelhaushälfte in der Wiener Künstlerkolonie auf der Hohen Warte. Die andere Hälfte wurde vom Jugendstilkünstler Koloman Moser bewohnt. Josef Hoffmann, ein Hauptvertreter der Wiener Werkstätten, entwarf das Doppelhaus um 1900 im Sinne der Erneuerung des Kunstgewerbes und seiner Überwindung des Historismus. Als stünde man direkt vor dem gedeckten Tisch, so konnte man das impressionistische Licht- und Farbenspiel auf sich wirken lassen und dabei, mit Blick auf den Garten, die nähenden Frauen im Hintergrund beobachten.

Die impressionistischen Darstellungen des Profanen, des Alltäglichen, standen in der Ausstellung der akademischen Malerei des 19. Jahrhunderts gegenüber. Eben genau jener Malerei, welche die Impressionisten überwinden wollten: Zu sehen waren u.a. Ferdinand Olivers Gemälde "Der Graf von Habsburg", in dem er die christliche Tugend des weltlichen Herrschers zum Thema macht, Franz Ludwig Catels idealisierte Landschaftsmalerei des "Golf von Neapel" sowie Ludwig Knaus mit seinem an das politisch engagierte Bürgertum erinnernde Bildnis einer "Jungen Wiesbadenerin mit blau-weiß-roter Demokratenschleife".

Das Museum präsentierte die Eröffnungsausstellung zur neuen Sammlung im Untergeschoss des 1958 fertiggestellten sogenannten Heuss-Baus, benannt nach dem damaligen Bundespräsidenten und Verwaltungsratsvorsitzenden des GNM, Theodor Heuss. Damals diente dieses Gebäude der Präsentation von Vor- und Frühgeschichte sowie der kunsthandwerklichen Sammlungen, heute befinden sich hier Büros, unter anderem der Generaldirektion.

DIE ZEIT lobte die Ausstellung zum 19. Jahrhundert als eine "wohlgelungene, in sich geschlossene Darbietung". Und auch die Unterbringung im Heuss-Bau, beziehungsweise die Nähe zum damaligen Haupteingang am Kornmarkt, hob die Rezension hervor: So war die Ausstellung "auch für Besucher, die für die übrigen Abteilungen keine Zeit haben, leicht zu erreichen" – manchen GNM-Besucher*innen von heute mag dieser Punkt nachvollziehbar erscheinen, denn auch jetzt noch legt man innerhalb des Hauses mitunter ein paar Kilometer durch die Ausstellungsräume zurück. Der hohe Besuch in der Ausstellung belegt die überregionale Ausstrahlung des Museums: Neben dem Architekten Sep Ruf, reiste auch der Bundeskanzler Ludwig Erhard mit seiner Ehefrau Luise Erhard an.

Für ein kulturhistorisches Museum mag es ungewöhnlich erscheinen, dass in der Ausstellung ausschließlich Gemälde präsentiert wurden – Skulptur und Kunsthandwerk beispielsweise kamen nicht vor. Dies lag vor allem am provisorischen Charakter der Eröffnungsausstellung der neuen Abteilung. Sie war übergangsweise bis zur Vollendung des Wiederaufbaus des Museums im Heuss-Bau untergebracht. Dann sollte die Sammlung in ihre eigenen Räume einziehen und die kulturgeschichtlichen Objekte schrittweise ergänzt werden, um die Komplexität der Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts abzubilden. Die Präsentation von 1965 bot einen Vorgeschmack auf diese Pläne. Sie wäre allerdings ohne die Kooperation mit den Nürnberger Kunstsammlungen nicht möglich gewesen. Die städtische Einrichtung stellte über die Hälfte der 109 gezeigten Werke als Dauerleihgaben zur Verfügung.


Kooperatives Sammeln und Ausstellen

Die Ausstellung endete mit den Werken der Impressionisten und bildete somit nicht die Entwicklung moderner Malerei ab. Es fehlten die Expressionisten wie auch die Abstrakten - eine Folge des Zweiten Weltkriegs. Die Gründung der neuen Abteilung fiel in die Zeit, in der die oberste Priorität auf dem Wiederaufbau des zu 80 % zerstörten Museums lag. Der Ankaufsetat war dementsprechend gering. Zwar wurde zuvor moderne Grafik, Textilien und Volkskunde am GNM gesammelt, die geringen Bestände moderner Malerei gelangten jedoch eher zufällig ans Haus: Ohne zuständige Abteilung war kein zielgerichtetes Sammeln möglich.

Was also tun, wenn man gern etwas hätte, das man sich nicht leisten kann? Man leiht es sich. Und so basierte die Eröffnungsausstellung der neuen Sammlung auf den Dauerleihgaben der Stadt Nürnberg. Doch auch die 1920 begonnene Städtische Kunstsammlung moderner Malerei blieb nicht von der nationalsozialistischen Politik verschont. Fast 120 als "entartet" diffamierte Gemälde fielen ihr zum Opfer. Wenige Neuankäufe konnten diesen Verlust nicht ausgleichen.

Bevor die Dauerleihgaben, darunter auch die Gemälde von Weisgerber und Moll, ans GNM übergeben wurden, verhandelte man über eine generelle Neustrukturierung der Nürnberger Kunstsammlungen. Schließlich sollte es nicht zu einer Konkurrenz zwischen den Vertragspartnern kommen. Die Stadt richtete ihren Sammlungsschwerpunkt auf die zeitgenössische sowie die internationale Kunst. Gemäß seiner Gründungsidee konzentrierte sich das GNM in seiner Sammlungsarbeit auf die deutsche Kunst und Kultur.

Die Kooperationspartner eröffneten gemeinsam die Ausstellung: Der damaligen Generaldirektor Steingräber wie auch der einstige Schul- und Kulturdezernent von Nürnberg, Dr. Hermann Glaser, sprachen Grußworte. Glaser und Steingräber waren es übrigens auch, die zeitgleich mit den Vorbereitungen zur Eröffnung des Kunstpädagogischen Zentrums, einer gemeinsamen museumspädagogischen Einrichtung von Stadt und Museum, begannen. Im Sinne von "Kultur für alle" wurde das Museum zur "Bildungsstätte der Jugend". In der Begegnung mit den Originalen, insbesondere der modernen Kunst, sahen die Pädagog*innen großes Potential, das Verhältnis "aller" Schüler*innen für ihre Umwelt zu schärfen – das "Wissen um ihre eigene Existenz" zu vertiefen.


Lesser Ury - der erste Impressionist im GNM

Die erste Erwerbung für die neue Sammlung war Lesser Urys Selbstbildnis aus dem Jahr 1881. Dr. Wulf Schadendorf, der damalige Konservator der Abteilung des 19. und 20. Jahrhunderts, sah in diesem Ankauf einen wegweisenden Schritt für den Sammlungsaufbau. Die Bedeutung des Gemäldes habe in seiner "totalen Aneignung modernster malerischer Auffassungen" gelegen. So stand es programmatisch für den Aufbruch des Museums. Das Leben des Künstlers und die Rezeption seines Werkes bis in die 1960er Jahre hinein boten dabei die Möglichkeit, diverse Aspekte der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zu vermitteln.

Lesser Ury bahnte sich seinen Weg zur modernen Malerei selbst. Zwar war er zeitweise an Kunstakademien, u.a. in Kassel, Düsseldorf, München und Brüssel eingeschrieben, doch dort konnte er nicht das finden, wonach er strebte. Und so zog es ihn abseits der Akademien nach Paris, dem Zentrum des französischen Impressionismus. Vor allem die Malerei Èdouard Manets, einem Wegbereiter der Moderne, inspirierte ihn dazu, den Akademismus und Realismus seiner Zeit zu überwinden. Kurz nach seinem Aufenthalt in Paris, malte er im Alter von 20 Jahren sein später für die Sammlung des GNM erworbenes Selbstporträt in Brüssel.

Urys Zeitgenossen tadelten ihn mit Worten wie "Sie malen ja wie Manet!" Ein hartes Urteil für die damalige Zeit – heute jedoch ein Lob seiner künstlerischen Fähigkeiten. Der Kunstkritiker Adolph Donath schrieb 1922 über das Porträt: "Ein bisher unbekanntes Selbstbildnis von Lesser Ury, das 1881 in Brüssel gemalt ist, zählt zu den schon klassischen Meisterstücken moderner Malerei." Und so sprach auch Schadendorf 1965 seine Anerkennung aus: "Die kühne, mit dem Spachtel modellierende Malerei, die kräftige Formen mit scharfer Lichtführung verbindet, kann mit Degas und Manet verglichen, an Cézanne gemessen werden." Für ihn war das Werk ein Zeugnis des "fruchtbaren Austausches deutscher Maler mit Paris", und er lobte es als ein "wahrhaft europäisches Bildnis".

In der Ausstellung hing Urys Selbstporträt neben den Werken seiner Zeitgenossen, den Impressionisten Max Slevogt, Lovis Corinth und Max Liebermann. Als Vertreter der "Berliner Secession" wandten auch sie sich gegen den akademischen Kunstbetrieb und widmeten sich dem Alltäglichen.

Im Nationalsozialismus als jüdischer Künstler diffamiert, wurde Ury erst in den 1960er Jahren wiederentdeckt. Und so fand seine Kunst 1965 schließlich auch in Nürnberg, der einstigen "Stadt der Reichsparteitage", einen Platz, der ihn nicht vergessen lässt.


Um 1965 – Zeit für Veränderungen

Zeitgleich mit der Gründung der Abteilung für Kunst und Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts vollzog das Museum auch in anderen Bereichen wegweisende Schritte ins 20. Jahrhundert: Die Bibliothek weitete ihre Sammlung auf Publikationen zur Kunst des 19. und 20. Jahrhundert aus und 1964 wurde die "Zentrale Dokumentationsstelle für die Geschichte der bildenden Kunst im deutschen Sprachgebiet", das heutige Deutsche Kunstarchiv, gegründet. Dessen Sammlungszeitraum reichte ebenfalls vom 19. bis ins 20. Jahrhundert.

Der Wille des Hauses, einen "Brückenschlag zwischen Vergangenheit und Gegenwart" zu vollziehen, visualisierte sich bereits vor dem Eingang: 1965 lud das GNM zeitgenössische Künstler ein, Skulpturen zu entwerfen, die sich mit der unmittelbaren Vergangenheit des 20. Jahrhunderts befassen sollten. Es  entstand Bernhard Heiligers Bronze "Phoenix": Die dynamisch-kompakte Figur weist auf die mythologische Szene des Aufstiegs eines Phoenix aus der Asche hin. Das Werk ist ein Symbol für die Stadt Nürnberg und das GNM, die aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs aufstiegen. Noch heute steht die Bronze an prominenter Stelle auf dem Kornmarkt vor dem Museum, wo bis 1983 auch der Haupteingang lag.

In direkter Nachbarschaft zu Heiligers "Phoenix" - jeder Besucher ging also an dieser mahnenden Skulptur vorbei, um ins GNM zu gelangen - stand bis vor kurzem ein Werk des italienischen Bildhauers Marino Marini "Il Guerriero" (dt. "Der Krieger"). Seit 2020 befindet sich die Skulptur am Haupteingang des Museums in der Straße der Menschenrechte. Als Werk eines nicht-deutschen Künstlers steht die Figur als Antikriegsdenkmal sinnbildlich für die Beziehungen der deutschen Kunst und Kultur mit anderen Ländern der Welt. Eine gute Gelegenheit an dieser Stelle auf den Blog-Beitrag Grenzen überwinden hinzuweisen.


Die Sammlung 19. und 20. Jahrhundert heute

Im Lauf der Jahrzehnte ist die Sammlung des 19. und 20. Jahrhunderts mehrfach umgezogen. Aktuell werden die zwei Jahrhunderte in der Dauerausstellung getrennt präsentiert: Das "Selbstbildnis" Lesser Urys hat seinen Platz in den Räumen zum 19. Jahrhunderts gefunden, Albert Weisgerbers "Zeitungsleser" und Carl Molls "Interieur (Gedeckter Tisch)" werden in den Räumen zum 20. Jahrhundert ausgestellt. In den kommenden Jahren steht eine Neukonzeption des 19. Jahrhunderts bevor.

Beim nächsten Mal heißt es: #VW-Kolleg | Reisen in der Heimat – eine Empfehlung unseres Museumsgründers
Bleiben Sie neugierig!


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