#VW-Kolleg | Turniere - Mittelalterliche Massenevents

Autor*innen unseres Forschungskollegs | 12.09.2020


turniere -
mittelalterliche Massenevents

Fabian Kastner M.A.

Wer schon einmal die Dauerausstellung „Waffen“ besichtigt hat, der erinnert sich wahrscheinlich an die beeindruckende freistehende Gruppe von insgesamt elf Turnierzeugen. Auf den ersten Blick imponieren die Harnische mit ihrer glänzenden Oberfläche, ihrem einheitlichen Aussehen und der symmetrischen Formation. Sieht man genauer hin, lassen sich abseits der Lichtreflexionen Schrammen und Kampfspuren erkennen, insbesondere im Halsbereich. Ein Blick auf den Ausstellungstext verrät, dass es sich bei den sieben Rüstungen in der Mitte mit den froschartigen Helmen um sogenannte Stechzeuge handelt. Jeweils am Rand der Ausstellungsfläche sind die vier Rennzeuge des Museums zu sehen, die keinen Armschutz haben. Wollen Sie mehr über die historische Entwicklung wissen, empfehlen wir den Blog-Artikel Helm als Gesichtsschutz.

Stechen und Rennen – die Namen offenbaren, wofür die Harnische im 15. und 16. Jahrhundert genutzt wurden: als Spezialschutz für zwei Turnierformate, die man heute als Extremsport einstufen würde. Die beeindruckende Form der Rüstungen verweist auf den gehobenen Status ihrer ehemaligen Träger, die Schrammen zeugen von der Wucht zersplitterter Lanzen. Aber wie kam es überhaupt dazu, dass man sich für Turniere mit solch schwerem Schutz wappnete? Und was war der Reiz an Formaten wie Stechen und Rennen?


Die Anfänge des Turniers


Als sich im frühen 12. Jahrhundert das Phänomen Turnier flächendeckend in Europa ausbreitete, hatte dessen Ablauf noch wenig mit heutigen romantisierenden Darstellungen – z.B. in Filmen wie A Knight’s Tale – zu tun. Teilnahmebedingungen am Turnier waren die adelige Herkunft und der Erhalt einer förmlichen Einladung. Diese konnte analog zur kriegerischen Fehde durchaus als Herausforderung formuliert werden.

Am zuvor festgelegten Ort eingetroffen, steckten die Turnierenden ein Gebiet mit Kampf- und Schutzzonen ab. Statt des Zweikampfs ritterlicher Streiter um die Gunst einer noblen Dame oder ein exquisites Kleinod ritten dann meist größere Massen, rekrutiert aus der Gefolgschaft der Ritter, gegeneinander an. Bezwungene Kämpfer einer feindlichen Fraktion ergaben sich, bis das Gefecht mit dem Triumph einer Gruppe endete. Als Belohnung winkten schon damals Ruhm und Ansehen. Mit welcher Härte die Handgemenge ausgetragen wurden, bestimmte der Turniermodus. Neben dem meist harmloseren, als Schaukampf angelegten Buhurt konnte ein Gruppenkampf auch nach den Regeln der Turnei abgehalten werden.

Scharfe Waffen, kriegerischer Eifer, ein abgezirkeltes Kampfareal, mehrere schwerbewaffnete Gruppen und Geplänkel bis zur Aufgabe – das waren die Bedingungen der Turnei. Sportliche und kompetitive Aspekte spielten kaum eine Rolle, stattdessen standen die erworbene Kampfhärte und das Waffengeschick im Mittelpunkt. Turniere fungierten anfangs als Training für den Ernstfall. Deshalb gab es noch keine eigentlichen Turnierwaffen – die Kämpfer handhabten, was ihnen sonst in Scharmützeln und Schlachten zur Verfügung stand.


Mittelalterliche Massenevents

Im Verlauf des 14. Jahrhunderts änderte sich dies, und es trat erstmals eine Abgrenzung der Turnierausrüstung von den übrigen Kriegswaffen ein. Zunächst führte dies zu erhöhter Sicherheit und minimierter Verletzungsgefahr bei den Teilnehmern. Im Zusammenhang damit wandelte sich auch das Turnier selbst. Abseits des kampftaktischen Manövers als Vorbereitung für Fehde und Krieg wurden Turniere nun zu wahren Spektakeln. Sie zogen Zuschauermassen und prominente Gäste an – heute würde man von Events sprechen.

Unter Kaisern, Königen und Fürsten wurden immer häufiger Turniere im Rahmen von Festivitäten wie Vermählungen und Friedensschlüssen organisiert, Sieger auserkoren und Preise vergeben. Um die hohen Austragungskosten zu stemmen, boten sich im 15. Jahrhundert Städte als Veranstalter an. Von den Wäldern und Wiesen der früheren Massenkämpfe verschob sich der Kampfplatz auf abgezäunte Straßen, Marktplätze und nahegelegene Freiflächen in und um die Metropolen des Spätmittelalters.


Gesellenstechen in Nürnberg – eine Reaktion der Patrizier

Auch Nürnberg zählte zu den Austragungsorten von Turnieren. In der freien Reichsstadt bestand eine besondere Konstellation, denn im Laufe des 14. Jahrhunderts nahmen viele Patrizier, die wohlhabende bürgerliche Oberschicht, an regionalen Turnieren teil. Das gefiel dem stolzen Landadel nicht, der sein angestammtes Turnierrecht nur zu gern exklusiv zur Schau stellte. In der Folge wurde den Nürnberger Patriziern vom Stadtrat untersagt, bei Turnieren mitzuwirken oder sie gar abzuhalten. Fügten sich die Patrizier dem widerspruchslos? Im Gegenteil – sie fanden einen Weg, das Verbot zu umgehen und ihre eigenen Turniere zu etablieren.

So wurden die sogenannten Gesellenstechen (s. auch Titelbild) aus der Taufe gehoben, die über einen Zeitraum von knapp 200 Jahren bis 1561 am Hauptmarkt ausgetragen wurden. Ihrer Beliebtheit konnte sich auch der Hochadel nicht erwehren – Markgrafen und sogar Könige waren bei Gesellenstechen zu Gast.

Hier kommen die Turnierrüstungen des GNM ins Spiel, denn Voraussetzung für die Teilnahme war neben adeliger Herkunft eine geeignete Rüstung. Weil sich nicht jeder eine eigene Turnierrüstung leisten konnte, ließ die Stadt Nürnberg von ihren Plattnern ab den 1490er Jahren bis etwa 1540 mehrere Rüstungssets anfertigen – darunter auch die Stech- und Rennzeuge aus dem GNM. Angeblich um der Verschwendung beim Rüstungsbau Einhalt zu gebieten, erhielten die Rüstungen einheitliche Gestalt. Geprotzt wurde dennoch, jetzt eben bei der individuell anpassbaren Helmzier.


Verfeinerungen der Tjost: Gestech und Rennen

Eine dritte Form neben Buhurt und Turnei, die Tjost, setzte sich im 14. Jahrhundert gegenüber den beiden anderen durch. Dabei handelte es sich um ein Anreiten zweier Kontrahenten mit dem Ziel, den anderen mit der Lanze zu treffen oder gar unsanft vom Pferd zu stoßen. Durch die klare Unterteilung von Sieger und Verlierer und den Bekanntheitsgrad der Tjostierenden gewann dieser Modus so sehr an Bedeutung, dass viele es gemeinhin mit dem Turnier selbst verbinden. Unter Kaiser Maximilian I., selbst begeisterter Turnierkämpfer, erlebte die Tjost mit einer breiten Palette von Formaten ihre Blütezeit. Eines davon war das schon länger beliebte Stechen oder Gestech. Hier war die Grundsituation des Duells gegeben: Zwei Reiter preschten aus verschiedenen Richtungen aufeinander zu, um in der Mitte der markierten Bahn aneinander die Lanzen zu brechen. Dabei war es nicht immer erforderlich, seinen Widersacher tatsächlich „abzureiten“ und vom Pferd zu werfen. Je nach Regularien reichte es aus, Treffer zu landen oder die eigene Lanze zu spalten.

Gezielt wurde bevorzugt auf die Tartschen – kleinere gewölbte Schilde, die in der Linken geführt wurden oder durch Riemen und Haken am Stechzeug befestigt waren. Die Lanzen in der rechten Hand hingegen waren um die vier Meter lang, vorne aus Sicherheitsgründen abgestumpft und so schwer, dass die Reiter sie auf sogenannten Rüsthaken an der Brust ablegten. Eine Brechscheibe bewahrte die eigene Hand vor Verletzungen, ein sogenannter abgestumpfter Krönig an der Lanzenspitze schonte die Gesundheit des Gegners. Der froschartige Helm und der lange, konkave Hals ließen heransausende Lanzen abgleiten.

Kurz: Mit den Stechzeugen prägte der Extremsport der Gestechs eine ausgeklügelte, in allen Details angemessene Schutzkleidung. Für den Gebrauch außerhalb von Turnieren waren die Stechzeuge durch die dicken Eisenplatten zu schwer – genau dort senkten sie aber das Verletzungsrisiko enorm. Dafür sorgte nicht zuletzt ihre starre und unflexible Konstruktionsweise, die kaum Bewegungsfreiraum zuließ.

Neben dem Turnierharnisch überlegte man sich auch für den Sattel Neuerungen. Tief ausgeschnittene Sättel zwangen den Tjostierenden dazu, nahezu aufrecht im Sattel zu stehen. Auf diese Weise ließ sich der Gegner besser anvisieren, ohne die Konzentration auf das Führen des eigenen Pferdes zu verbrauchen. Alle diese Vorkehrungen erlaubten spektakuläre Frontalzusammenstöße der beiden Ritter bei gleichzeitiger Schonung von Mensch und Pferd. Trotzdem blieb das Turnier auch im Spätmittelalter ein gefährliches Vergnügen, das oftmals Verletzte oder gar Tote mit sich brachte.

Wem die Wucht beim Gestech noch nicht genügte, für den prädestinierte sich ab dem Ende des 15. Jahrhunderts eine weitere Turnierkategorie: das Rennen. Im Vergleich mit dem Stechen waren hier die Ausrüstung leichter, die Lanzen schärfer – und die Teilnehmer noch waghalsiger. „Abgerannte“ Reiter sowie Schilde, die nach einem Treffer mechanisch in die Luft geschleudert wurden, bereiteten dem Publikum großes Erlebnis.


Der Weg ins Museum

Was geschah aber mit den Stech- und Rennzeugen, wenn nicht gerade Patrizier mit ihnen tjostierten? Sie warteten im städtischen Zeughaus, dem hiesigen Waffenarsenal, darauf, von turnierenden Bürgern ausgeborgt zu werden. Als Turniere aus der Mode kamen, wurden sie dort als Erinnerungsstücke an frühere Traditionen über Jahrhunderte hinweg aufbewahrt. Erst kurz vor 1800 wurden sie wegen Napoleons Vormarsch verkauft. Ein Teil der Nürnberger Harnische gelangte deshalb 1815 nach Schloss Feistritz südlich von Wien. Erst 1889 gelang es August von Essenwein, dem damaligen Direktor des GNM, die elf Turnierrüstungen durch glückliche Umstände zu erwerben. Seitdem sind sie wieder in ihrem Herkunftsort Nürnberg und bilden den Kern einer der bedeutendsten Kollektionen von Turnierwaffen weltweit.

 


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