artists in Residence

 

Zum ersten Mal bezieht das Germanische Nationalmuseum zeitgenössischer Künstler*innen ein, die in Auseinandersetzung mit den Ausstellungsthemen neue Werke schaffen. Dank Stiftungsgelder konnten mehrere Stipendien aus den unterschiedlichen Kunstbereichen mit jeweils drei Monaten Laufzeit ausgelobt werden.

Die Ausschreibung richtete sich gezielt an Künstler*innen mit Flucht- oder Migrationserfahrung, an Einzelpersonen wie an Gruppen. Die Stipendiat*innen setzen sich während der Laufzeit der Ausstellung für ihr Werk mit den Themenbereichen und einzelnen Objekten der Ausstellung auseinander und entwickeln dazu ihr Projekt. Damit soll der gegenwärtigen künstlerischen Auseinandersetzung mit Migration Raum gegeben werden und Partizipation auf weiteren Wegen in die Ausstellung einfließen.

Die Stipendiat*innen

 

 

Adrian Blount, Power Tower Pishiboro
Instagram @godxnoirphiles

Power Tower Pishiboro - interaktives Theaterstück, Installation und Workshopreihe - basiert auf einem Schöpfungsmythos der San: Pishiboro, der höchste Gott, wurde von einer kosmischen Puffotter gebissen und als er starb, wurde die Welt erschaffen. Sein Haar wurde zu den Wolken, die die lebensspendende Quelle des Regens hervorbringen sollten. Pishiboro ließ sich wieder auferstehen und schuf die Menschheit. Als er die Menschheit betrachtete, stellte er fest, dass sie unvollständig war. So gab er ihnen Haare, um seine Schöpfung zu vervollständigen.

Verwobene Geschichten von Identität und Migration |
Interview mit Adrian Blount

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Die tiefe Geschichte der Verehrung des Haares in den afrikanischen vorkolonialen Gesellschaften wurde an den Rand der Geschichte gedrängt. Indem die Kolonisatoren das Haar rasierten, löschten sie die Autonomie und Identität der Versklavten gewaltsam aus. "Ancestral Trees of Remembrance and Tradition" will darüber nachdenken, wie die Verkörperung einer möglichen Versöhnung der Menschen auf dem afrikanischen Kontinent und in der afrikanischen Diaspora unter Verwendung afrofuturistischer Ästhetik aussehen könnte.

Synthetisches Kanekalonhaar, das in Wirbeln aufgetragen wird, repräsentiert die vorkolonialen Konzepte von Zeit (und Leben) als multipel, zyklisch und veränderlich. Der Hasendraht steht für negative Begrenzungen, Grenzen und Eingrenzungen und kann bei falscher Handhabung zu Blutvergießen führen. Es gibt aber auch positive Begrenzungen, die die Pflege von Traditionen ermöglichen. So steht der Draht auch für Gemeinschaft - ein Raum für Geburt, Entwicklung und die Möglichkeit des Aufbruchs.


Alisha Wessler
Instagram @alishawessler, www.alishawessler.com

Im Rahmen ihres Stipendiums am Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg schuf die Künstlerin Alisha Wessler 2023 eine Serie von Pilgerzeichen, die von mittelalterlichen Pilgerzeichen in der Sammlung des Museums inspiriert sind. In Zusammenarbeit mit Stephan Dörr, Zinnmeister in vierter Generation, goss sie ihre Entwürfe in Zinn. Es sind Abzeichen des Mutes, der Stärke und des Schutzes für Menschen in Übergangssituationen und die Grenzen überschreiten.

Pilgerzeichen sind kleine, broschenartige Objekte, die im europäischen Mittelalter als beliebtes Souvenir an christlichen Wallfahrtsorten gekauft werden konnten. Sie wurden in Massenproduktion aus einer Zinn-Blei-Legierung hergestellt und konnten günstig produziert und verkauft werden. Heute sind noch über 20 000 Stück erhalten. Die Mediävistin Ann Marie Rasmussen beschreibt sie wie folgt: "Sie waren hell, glänzend, oft farbig verziert und wurden üblicherweise an Hüte oder Umhänge genäht oder gepinnt, wo sie ins Auge fielen [...] Außerdem galten die Medaillen als Amulette zur Abwehr des Bösen und zum Schutz der Träger*innen auf ihrer Reise." Eine Pilgerreise ist im weitesten Sinne "eine Reise, oft an einen unbekannten oder fremden Ort, auf der eine Person nach neuen oder erweiterten Erkenntnissen über sich selbst, andere, die Natur oder ein höheres Gut sucht."

Im Geiste der historischen Pilgerzeichen lädt die Künstlerin dazu ein, die Pilgerzeichen auf die Kleidung aufzunähen – sei es stolz am Revers oder versteckt in einer Tasche. Sie sollen die Träger*in in einer Übergangs- oder Umbruchsituation oder auf einer symbolischen Pilgerreise beschützen. Besucher*innen sind eingeladen, sich gegen eine Spende ein Pilgerzeichen mitzunehmen. 100% der Spenden gehen an das International Rescue Committee (IRC Deutschland), die Nothilfe für Geflüchtete aus Kriegsgebieten oder bei Naturkatastrophen leisten.


Eeva Ojanperä, Cranemaps (AT)    
@eevaojanperae

Ein intimer Einblick in etwas weit Entferntes. Ein Versuch, etwas nicht Greifbares nah heranzuholen. Das treue Weh von Heimat und Ferne. Dem Ziehen der Vögel nachgehen. Dem Ziehen in mir nachgehen. Die Gründe des Aufbruchs. Ein Ankommen, das keines ist. Das Ende einer Bewegung, die nicht anhalten möchte. Die Ambivalenz der Bewegung. Was finde ich dazwischen?

Drei Spektive, auf hölzernen Stativen angebracht, zeigen in verschiedene Richtungen. Blickt man hindurch, werden experimentelle Filmarbeiten zu sehen sein.
Die Schnittstellen von Fern- und Heimweh, Nostalgie, Sehnsucht, Zugunruhe und Kranichen werden erkundet und experimentell in Kontext gesetzt.

Anfang April begebe ich mich auf eine Reise nach Schweden, einem Land meiner Vorfahren. Ziel ist der Hornborgasjön-See, ein traditioneller Kranichrastplatz. Ein Astrolabium wird mir Orientierungshilfe geben. Die Reise bildet die Grundlage der Filme und kann auf meiner Website/Instagram verfolgt werden.

 


Iryna Yeroshko

Migration ist Teil meiner Familiengeschichte. Ich wurde 1994 in der Ukraine geboren. Alle meine älteren Familienmitglieder wurden in verschiedenen Teilen der UdSSR geboren. Deren Politik bestand darin, die Nationen so weit wie möglich zu vermischen und sie zu entwurzeln. Dadurch sollten sie ihre Identität verlieren und eine neue schaffen – die eines sowjetischen Menschen. Das brachte mich dazu, über drei Fragen nachzudenken:
Woher komme ich? Wo lebe ich jetzt? Wo würde ich gerne dauerhaft bleiben?

Ich lade die Besucher*innen des GNM ein, gemeinsam mit mir über diese Fragen nachzudenken. Die gesammelten Daten werden durch Sticken auf ein Stück Leinwand übertragen. Das Sticken erlaubt es mir, die Reise zu verlangsamen und quasi Zeugin der bereisten Routen zu werden.

Es ist auch eine beliebte Technik in der ukrainischen Kultur: handbestickte Hemden, Blusen, Tischdecken und Tücher sind dort aus der skythischen Kunst des 5. Jahrhunderts v. Chr. bekannt. Durch die Anwendung dieser Technik nehme ich also nicht nur an der Reise der Besuchenden teil, sondern stelle auch eine Verbindung zu meinen Vorfahren her.

In Bewegung: Lebenswege auf Stoff |
Interview mit Iryna Yeroshko

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Sarai Meyron, Memory of maybe tomorrow
Instagram @Sarai.Meyron

In Episoden untersuche ich die zionistische Ideologie aus verschiedenen Phasen und Blickwinkeln. Ich beginne mit der Geburt des Zionismus und der emotionalen Stimmung der Verzweiflung und Hoffnung, mit der er begann. Das Volkslied, das in dieser Episode erklingt, wenn die nationale Blume Israels erscheint, stellt die Utopien der Ideologie dar. Der Zionismus, wie er im Video zu sehen ist, ist eine vieldeutige Figur, sowohl Kind als auch Erwachsene, weiblich im Körper und männlich in der hebräischen Sprachform.

In der zweiten Episode Dream/Nightmare geht es um den Traum von einem Zuhause und den Schlüssel dazu. Die Arbeit ist von meinem Aufwachsen in Israel inspiriert, wo Häuser von vertriebenen und geflohenen Palästinenser*innen an jüdische Flüchtlinge verteilt wurden. Nach Blut schmeckendes Wasser und eine jahrzehntelange Reise verweisen auf die in Ägypten versklavten Juden und ihren biblischen Exodus.

Diese Videoinstallation fragt Menschen, die sich tief zum Staat Israel hingezogen fühlen: Ist das dein Traum?
Weitere Episoden werden im Laufe der Ausstellung hinzukommen.

 

Zwischen Familie, Migration und der eigenen Identität |
Interview mit Sarai Meyron

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Simona Leyzerovich
@zimoshka

Crying Chandelier


Die Installation “Crying Chandelier” thematisiert meine Emigration (Auswanderung) und die Frage: “Was nehme ich mit?”  
Bei der Auswanderung hat meine Jüdische Großmutter darauf bestanden, unter anderem auch zwei Kronleuchter mitzunehmen. Diese wurden während der Sowjetzeit im damaligen Leningrad (jetzt Sankt Petersburg) von meinen Vorfahren erworben. Einen von den Kronleuchtern habe ich bekommen. Er ist unpassend, aber er ist da.
Mir wurde versprochen: Eine Person, die einen Kronleuchter besitzt, gehört dazu. Diese Person verfügt über ein gewisses Maß an Bildung, Wohlstand, Kultur und sogar Gesundheit. Wir nahmen nicht die Kronleuchter mit, sondern Illusionen. Meine Illusionen zerbrechen an meiner migrantischen Realität und werden zu Tränen.

Was nimmt man mit und wovon nimmt man Abschied? |
Interview mit Simona Leyzerovich
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Schiwa sitzen: Performance 3.-9. September 2023

“Schiwa sitzen” thematisiert meine Immigration (Einwanderung) und den damit verbundenen Schmerz.
Die jüdische Schiwa ist die Trauerzeit in der ersten Woche nach einer Beerdigung. Eine Woche für entschlossenes Trauern und Abschiednehmen.

Ich baue Schiwa-Möbel und sitze Schiwa.
Ich trauere um Personen, die unter den Bedingungen für Immigration leiden.
Ich nehme Abschied von der nationalen Zuordnung, von alten Mustern und Einstellungen.
Ich bin hier.
Ich lasse die Leere zu.
Ich bin aufmerksam und ich fühle.

Nach der Schiwa kämpfe ich weiter.