
Sind wir noch Teil unserer Natur?
James Camerons bildgewaltiges Filmepos Avatar – Aufbruch nach Pandora (2009) ist außergewöhnlich. Flora und Fauna des entlegenen Mondes faszinieren bei Tag und überwältigen den Zuschauer bei Nacht. Eine Hauptrolle weist der Regisseur in seinem technischen Meisterwerk den Bäumen zu. Wie Zellen in einem Nervensystem verbinden sie sich zu einem geschlossenen Netzwerk, in das sich die Bewohner Pandoras einloggen können. Ein Primus inter pares ist der an hiesige Trauerweiden erinnernde „Baum der Seelen“. Er ist magisch. Mehr Heiligtum als Naturdenkmal wird er von den Bewohnern des Mondes Pandora benutzt, um sich mit den Ahnen zu verbinden. Und er ist heilig, weil er Kontakt zu „Eywa“ erlaubt. „Eywa“ aber ist kein Gott im eigentlichen Sinn, sondern wird als Metapher für das Bewusstsein aller Lebewesen benutzt.
Bei so viel Achtsamkeit und Respekt der Na’vi vor der Natur verschlägt es einem als Zuschauer schlicht den Atem. Die Wirklichkeit in unserer realen Welt aber ist eine andere: Klimawandel und Ausbeutung, Überfischung und Artensterben prägen die Schlagzeilen unserer Zeit, und zwar obwohl paradiesische Naturräume Sehnsuchtsorte für Erwachsene sind und Naturerfahrungen für die Entwicklung unserer Kinder elementar bleiben.
Der Grundgedanke von „Avatar“ die Natur als Lebewesen zu betrachten, ist faszinierend. Neu ist er nicht. Bereits in den 1970er Jahren entwickelten die Biologen Lynn Margulis (1938-2011) und James Lovelock (geb. 1919) eine bahnbrechende Hypothese, die sie in Anlehnung an einer bereits aus der „griechischen Mythologie“ bekannten Erdgöttin „Gaia-Hypothese“ nannten. Danach können Erde und Biosphäre wie ein Lebewesen betrachtet werden. Gott hat in dem berühmten Theorem, dass Margulis und Lovelock als Vorreiter der Fridays for Future-Bewegung erscheinen lässt, keinen Platz.
papierne Gärten
Aktuell lädt das Germanische Nationalmuseum zu Naturerkundungen ein, sobald wir unsere Türen wieder geöffnet haben. In der Studioausstellung Papierne Gärten. Illustrierte Pflanzenbücher der frühen Neuzeit geben Naturheilkunden als zentrale Textsorte mittelalterlicher Medizinliteratur ihr geheimes Wissen preis und lassen uns über die profunden Kenntnisse vergangener Autoren in verschiedenen Naturheilverfahren staunen.

Ärzte und Patienten, Wanderer und Künstler griffen auf diese Kompendien zurück, in denen Holzschnitte und Kupferstiche die Pflanzen mittels exakter Zeichnung und naturgetreuer Kolorierung ins Bild setzen.
Neben Bücher der Pflanzenheilkunde treten Florilegien. Sie verdeutlichen, dass Zierpflanzen im 17. Jahrhundert zunehmend populärer wurden. Kurz, das flüchtig Schöne trat neben das essentiell Nützliche: Man begann in Mitteleuropa Rosen zu züchten, pflanzte Narzissen und Hyazinthen, gab ein Vermögen für Tulpenzwiebeln aus und löste damit im Jahr 1637 den ersten Börsencrash der Weltgeschichte aus. Insbesondere Pflanzenbücher des Barock liefern sich mit der Natur einen Überbietungskampf in puncto Realität und Schönheit. Als papierne Paradiesgärten bringen sie den Garten Eden auf ewig in die Bibliothek. Sie dokumentieren die Pflanzenvielfalt von Privatgärten und wurden so zu schwergewichtigen und in der Regel unhandlichen Statussymbolen adeliger und bürgerlicher Eliten.
Pflanzen mit ihren Blüten und Früchten mutieren im Bild vom Beiwerk der Buch- und Tafelmalerei zu in Nahsicht wiedergegebenen Hauptsujets: Einheimische Gewächse aber auch Exotica wie Limone und Zitrone, wie Ananas und Granatapfel werden oft in natürlicher Größe und Farbe täuschend echt auf imposant ausladende Papierformate gebracht.
Im Mittelpunkt der Ausstellung steht die Plantae Selectae, die der Nürnberger Botaniker Christoph Jakob Trew ab 1750 herausgab. Die Pflanzenbilder fußen auf einem Konvolut von Vorlagen des berühmten Pflanzenmalers Georg Dionys Ehrets, aus dem im Laufe der Ausstellung insgesamt 46 Einzelblätter zu sehen sein werden.

Ein Blick in die Ausstellung verrät, welch andere Auffassung im Umgang mit der Natur in der Frühen Neuzeit (1500-1800) vorherrschte. Der böhmische Arzt und Humanist Georg Handsch schreibt bspw. in seiner Vorrede der 1563 erschienenen deutschen Erstausgabe von Mattiolis Dioskurides-Kommentar sinngemäß, dass der Mensch von 1000 Gefahren umgeben und sich keines Augenblicks seiner Gesundheit und seines Lebens sicher sein könne. Der Schöpfer der Natur aber, der den Menschen solcher Gefahren aussetze, hat den Menschen zugleich mit einem Schatz an Kräutern und anderen Kreaturen umgeben, denen er Kraft und Macht gegeben hat, um den Menschen zu helfen.
![Kirsche. In: Mattioli, Pietro Andrea; Handsch, Georg [Übersetzer]: New Kreüterbuch. 1563, Bl. 84r 2° Nw. 1973 ©Germanisches Nationalmuseum (Foto: Johannes Pommeranz)](/fileadmin/user_upload/GNM-Ausstellung-Papierne_Gaerten04.jpg)
Kommentare
14.11.2020 | Claudia Munker
Sehr geehrter Herr Dr. Pommeranz, vielen Dank für den schönen Blogbeitrag als Erinnerung bzw. zur Vorfreude auf die tolle Ausstellung „Papierene Gärten“! Es freut mich außerordentlich die alten Bücher einmal live genießen zu können. Und das ohne weit fahren zu müssen! Ein kurzer Ausflug nach Nürnberg, sobald ihre Türen wieder geöffnet sind und Genuss pur. Spätestens nach dem Anblick der Ausstellung fühle ich mich wieder als Teil der Natur. Herzliche Grüße, Claudia Munker | GNM_BLOG ANTWORTET: Sehr geehrte Frau Munker, ganz herzlichen Dank für Ihr Feedback. Wir freuen uns auf Ihren Besuch!!