Sind wir noch Teil unserer Natur?

Dr. Johannes Pommeranz | 13.11.2020

James Camerons bildgewaltiges Filmepos Avatar – Aufbruch nach Pandora (2009) ist außergewöhnlich. Flora und Fauna des entlegenen Mondes faszinieren bei Tag und überwältigen den Zuschauer bei Nacht. Eine Hauptrolle weist der Regisseur in seinem technischen Meisterwerk den Bäumen zu. Wie Zellen in einem Nervensystem verbinden sie sich zu einem geschlossenen Netzwerk, in das sich die Bewohner Pandoras einloggen können. Ein Primus inter pares ist der an hiesige Trauerweiden erinnernde „Baum der Seelen“. Er ist magisch. Mehr Heiligtum als Naturdenkmal wird er von den Bewohnern des Mondes Pandora benutzt, um sich mit den Ahnen zu verbinden. Und er ist heilig, weil er Kontakt zu „Eywa“ erlaubt. „Eywa“ aber ist kein Gott im eigentlichen Sinn, sondern wird als Metapher für das Bewusstsein aller Lebewesen benutzt.

Bei so viel Achtsamkeit und Respekt der Na’vi vor der Natur verschlägt es einem als Zuschauer schlicht den Atem. Die Wirklichkeit in unserer realen Welt aber ist eine andere: Klimawandel und Ausbeutung, Überfischung und Artensterben prägen die Schlagzeilen unserer Zeit, und zwar obwohl paradiesische Naturräume Sehnsuchtsorte für Erwachsene sind und Naturerfahrungen für die Entwicklung unserer Kinder elementar bleiben.  

Der Grundgedanke von „Avatar“ die Natur als Lebewesen zu betrachten, ist faszinierend. Neu ist er nicht. Bereits in den 1970er Jahren entwickelten die Biologen Lynn Margulis (1938-2011) und James Lovelock (geb. 1919) eine bahnbrechende Hypothese, die sie in Anlehnung an einer bereits aus der „griechischen Mythologie“ bekannten Erdgöttin „Gaia-Hypothese“ nannten. Danach können Erde und Biosphäre wie ein Lebewesen betrachtet werden. Gott hat in dem berühmten Theorem, dass Margulis und Lovelock als Vorreiter der Fridays for Future-Bewegung erscheinen lässt, keinen Platz.


papierne Gärten

Aktuell lädt das Germanische Nationalmuseum zu Naturerkundungen ein, sobald wir unsere Türen wieder geöffnet haben. In der Studioausstellung Papierne Gärten. Illustrierte Pflanzenbücher der frühen Neuzeit geben Naturheilkunden als zentrale Textsorte mittelalterlicher Medizinliteratur ihr geheimes Wissen preis und lassen uns über die profunden Kenntnisse vergangener Autoren in verschiedenen Naturheilverfahren staunen.

Ärzte und Patienten, Wanderer und Künstler griffen auf diese Kompendien zurück, in denen Holzschnitte und Kupferstiche die Pflanzen mittels exakter Zeichnung und naturgetreuer Kolorierung ins Bild setzen.

Neben Bücher der Pflanzenheilkunde treten Florilegien. Sie verdeutlichen, dass Zierpflanzen im 17. Jahrhundert zunehmend populärer wurden. Kurz, das flüchtig Schöne trat neben das essentiell Nützliche: Man begann in Mitteleuropa Rosen zu züchten, pflanzte Narzissen und Hyazinthen, gab ein Vermögen für Tulpenzwiebeln aus und löste damit im Jahr 1637 den ersten Börsencrash der Weltgeschichte aus. Insbesondere Pflanzenbücher des Barock liefern sich mit der Natur einen Überbietungskampf in puncto Realität und Schönheit. Als papierne Paradiesgärten bringen sie den Garten Eden auf ewig in die Bibliothek. Sie dokumentieren die Pflanzenvielfalt von Privatgärten und wurden so zu schwergewichtigen und in der Regel unhandlichen Statussymbolen adeliger und bürgerlicher Eliten.

Pflanzen mit ihren Blüten und Früchten mutieren im Bild vom Beiwerk der Buch- und Tafelmalerei zu in Nahsicht wiedergegebenen Hauptsujets: Einheimische Gewächse aber auch Exotica wie Limone und Zitrone, wie Ananas und Granatapfel werden oft in natürlicher Größe und Farbe täuschend echt auf imposant ausladende Papierformate gebracht.

Im Mittelpunkt der Ausstellung steht die Plantae Selectae, die der Nürnberger Botaniker Christoph Jakob Trew ab 1750 herausgab. Die Pflanzenbilder fußen auf einem Konvolut von Vorlagen des berühmten Pflanzenmalers Georg Dionys Ehrets, aus dem im Laufe der Ausstellung insgesamt 46 Einzelblätter zu sehen sein werden.

Ein Blick in die Ausstellung verrät, welch andere Auffassung im Umgang mit der Natur in der Frühen Neuzeit (1500-1800) vorherrschte. Der böhmische Arzt und Humanist Georg Handsch schreibt bspw. in seiner Vorrede der 1563 erschienenen deutschen Erstausgabe von Mattiolis Dioskurides-Kommentar sinngemäß, dass der Mensch von 1000 Gefahren umgeben und sich keines Augenblicks seiner Gesundheit und seines Lebens sicher sein könne. Der Schöpfer der Natur aber, der den Menschen solcher Gefahren aussetze, hat den Menschen zugleich mit einem Schatz an Kräutern und anderen Kreaturen umgeben, denen er Kraft und Macht gegeben hat, um den Menschen zu helfen.


Schöne fremde Welt

Dass ohne Gott nichts ging, legt auch ein anderes zentrales Werk der Ausstellung nahe. Im Jahr 1705 erschien in Amsterdam ein Buch, das in Wort und Bild von der Flora und Fauna Surinams berichtet. Der Titel ist Programm. In Metamorphosis insectorum Surinamensium schildert Maria Sibylla Merian (1647-1717) im lokalen Kontext der Futterpflanze die Entwicklung von Schmetterlingen, deren Erforschung die Künstlerin ihr Leben verschrieb. Aber was heißt „schildern“?

Merians Pflanzenporträts sind Explosionen von schillernden Farben und fantastischen Formen. Voller Faszination für das vermeintlich Geringe, für die Winzigkeiten des Lebens hielt sie detailliert und in warmen Farben Vegetationsformen der Tropen fest, die in damaliger Zeit vielen Europäern gänzlich unbekannt waren. Kleine Verwandlungskünstler treten ins Rampenlicht: Mord und Totschlag, Hingabe und Fürsorge wohnen bei Merian Tür an Tür.

Der Kritik gilt das Surinam-Buch als Gottesbeweis schlechthin, denn es bringt dem Betrachter auf künstlerische Art und Weise die unsagbare Schönheit von Gott für den Menschen geschaffene Schöpfung nahe. 

Es ist die große Zeit der Physikotheologie. Die im 17. Jahrhundert von England ausgehende und auf das Festland überschwappende theologische Strömung sieht in den Wundern von Gottes Schöpfung zugleich den Beweis von dessen Existenz, sieht Gottes Größe im Kleinen. Selbst das Geringste über die Maße wertschätzend, schreibt die tief gläubige Merian über ihre Arbeitsmotivation in ihrem kaum weniger berühmten Raupenbuch: „Nachdem ich nun durch die Gnade Gottes alles dasjenige erklärt, so beliebe dem hochgeehrten Leser zu wissen, daß alles diese zu Ehren Gottes allein von mir geschehen, indem ich verhoffe, daß sein Ruhm und Lob aus diesen […] sehr geringen und bey manchen vielleicht verächtlichen Dingen unter uns irdischen Menschen desto heller und herrlicher hervorleuchten möchte“ (Tl. 1, 1679, S. 102).

Hier drückt sich ihr Staunen über die wunderbaren Erscheinungen aus dem Reich unscheinbarer Tierchen wie der Insekten aus. Und ihr Wunsch, dass dem Leser Demut und Andacht bei der Betrachtung ihrer papiernen Naturerlebnissen mit detailliertem Blick auf die Innenseiten der Schöpfung widerfährt.

Der Wuchs der Pflanzen und die Metamorphose der Insekten sind kein Selbstzweck. Sie dienen dem Menschen. Darin sieht die Naturtheologie des Barockzeitalters den Beweis für die Existenz Gottes. Die Welt wird somit zum Anlass, nämlich dank ihrer Vollkommenheit Gottes Allmacht und Weisheit, dessen Güte und Barmherzigkeit zu erkennen und zu loben.


Die Welt der Vernunft

In der Folgezeit beginnen sich Natur- und Geisteswissenschaften zunehmend voneinander zu trennen. Mit der Aufklärung erfährt das Zeitalter der Entdeckungen einen letzten Höhepunkt. Spürbare Fortschritte in Wissenschaft und Technik führen zu einem neuen Geist. In der Botanik wird die Bedeutung taxonomisch relevanter Merkmale wie Griffel und Staubblätter, wie Narbe und Kelchblätter für die Pflanzenbestimmung erkannt. 1735 erschien Carl von Linnés Hauptwerk Systema naturae, in dem der berühmte schwedische Arzt und Botaniker die Vielfalt der Pflanzenarten in ein natürliches System brachte und Ordnung im Chaos schuf.

Bei allen Fortschritten in der Pflanzensystematik, bei allen Fortschritten der Botanik als Wissenschaft, man blieb eins mit der Natur. Nur ein Jahr nach Linnés bahnbrechender Veröffentlichung schrieb der Schweizer Albrecht von Haller den von tiefem Respekt vor der Evolution geprägten Satz: „Zuerst war ich ein Kraut“. Als Zeitgenosse der Aufklärung nahm der Lyriker und Arzt, der Botaniker und Universalgelehrte die Beziehungen zwischen Lebewesen und der sie umgebenden Natur in den Blick. 

Der Mensch erkennt sich dabei als Species, die mit allem Leben auf der Erde verbunden ist. Naturerkenntnis führt zur Selbsterkenntnis. Die Pflanze war endgültig nobilitiert. Die Buchgattung „Pflanzenbuch“ aber hatte gegen Ende des 18. Jahrhunderts ihren Zenit überschritten.

Und heute? Im vergangenen Jahr (2019) erhielt der berühmte brasilianische Fotograf Sebastião Salgado den renommierten Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Für den genauen Beobachter unserer Welt steht fest, dass unsere Species untergehen wird. In einem jüngst im FAZ Magazin veröffentlichten Interview (August 2020) macht er allein dem Planeten Erde Hoffnung auf ein Weiterleben, denn „die Evolution ist eine höhere Intelligenz.“

Gibt es  denn gar keine Hoffnung für die kommende Generation?  Vielleicht, ihre Hoffnungen beruhen allerdings nicht auf Gott, sondern auf den schmalen Schultern einer 17-jährigen namens Greta Thunberg.


Kommentare

14.11.2020 | Claudia Munker

Sehr geehrter Herr Dr. Pommeranz, vielen Dank für den schönen Blogbeitrag als Erinnerung bzw. zur Vorfreude auf die tolle Ausstellung „Papierene Gärten“! Es freut mich außerordentlich die alten Bücher einmal live genießen zu können. Und das ohne weit fahren zu müssen! Ein kurzer Ausflug nach Nürnberg, sobald ihre Türen wieder geöffnet sind und Genuss pur. Spätestens nach dem Anblick der Ausstellung fühle ich mich wieder als Teil der Natur. Herzliche Grüße, Claudia Munker | GNM_BLOG ANTWORTET: Sehr geehrte Frau Munker, ganz herzlichen Dank für Ihr Feedback. Wir freuen uns auf Ihren Besuch!!


Kommentar schreiben

* Diese Felder sind erforderlich