#VW-Kolleg | Begehbare Lebenswelten

Autor*innen unseres Forschungskollegs | 04.07.2020


BEGEHBARE LEBENSWELTEN
AUSSTELLUNGSRÄUME ZWISCHEN AUTHENTISCHER ERFAHRUNG UND INSZENIERTEM IDEAL

Eva Muster M.A.

Seit es Corona-bedingt angebracht ist, zuhause zu bleiben, stellen wir zusätzliche Ansprüche an unsere eigenen vier Wände. Der Wohnraum ist zur Schule, zum Homeoffice und zugleich Freizeit- und Rückzugsort geworden. Das Zuhause, unser Lebensmittelpunkt, wird von uns liebevoll mit besonderen Möbelstücken, Erinnerungsobjekten und auch schlicht notwendigen funktionalen Gegenständen eingerichtet. Wir hängen an vielen Dingen und geben sie als wertvolle Erbstücke an die nachfolgende Generation weiter.

Die Kultur unseres Wohnens ist auch für ein Museum ein wichtiges Forschungs- und Sammlungsinteresse. Seit dem 18. Jahrhundert werden Wohnräume und Lebenswelten ausgestellt. Aus England und Frankreich kommend, erreichte dieser Trend in der Mitte des 19. Jahrhunderts auch Deutschland. Was finden wir dazu in der Geschichte des Germanischen Nationalmuseums?


ERSTE AUSGESTELLTE LEBENSWELTEN IN FRANKREICH


Als Stil- oder Epochenräumen, in der Forschung auch period rooms genannt, werden vollständige Interieurs bezeichnet, die einen Eindruck von Lebenswelt, Einrichtungsgeschmack und damit der Kultur einer Epoche oder Region vermitteln. Sie machen Kulturgeschichte erlebbar und lebendig, geben Besucher/-innen die Möglichkeit, sich historische Themen und gesellschaftliche Lebensformen in – vermeintlich – authentischen Ausstellungsräumen zu erschließen.

Die Anfänge dieser Ausstellungspraxis beschränkten sich zunächst noch auf herrschaftliche Räume des Hochadels und auf sakrale Einrichtungen mit überwiegend mittelalterlichen Kunstschätzen. So war es 1795 das Anliegen von Alexandre Lenoir, dem Gründer des Musée des Monuments français, die für ihn wichtigsten Zeugnisse der französischen Geschichte zu zeigen und mit jedem eingerichteten Raum einen Einblick in den Stil einer Epoche zu geben. Um eine realitätsnahe Raumerfahrung zu ermöglichen, präsentierte Lenoir gleichberechtigt neben den Originalen auch nachempfundene und kopierte Objekte.

Ähnliches gilt für die Sammlung mittelalterlicher Kunstgegenstände des Archäologen und Kunstsammlers Alexandre Du Sommerard, die den Grundstock für das 1843 in Paris gegründete Musée de Cluny bildete. Er machte sich zur Aufgabe, „seine“ Welt des Mittelalters so anschaulich wie möglich zu präsentieren und begab sich dabei auf einen schmalen Grat zwischen wissenschaftlich belegbarer Komposition und einer inszenierten Idealisierung der Vergangenheit.

Am Beispiel der häuslichen Lebenswelt und der historischen Wohnräumen betrachten wir im folgenden die begehbaren Räume im GNM von seiner Gründung bis ins 20. Jahrhundert.


die FRÜHE INSZENIERUNGEN im 19. jahrhundert

Freiherr Hans von und zu Aufseß, der Gründer des Germanischen Nationalmuseums, setzte wohl erstmalig im deutschsprachigen Raum diese Art der Inszenierung von Vergangenheit im Museum um. Im Vorgängergebäude des heutigen GNM, dem Tiergärtnertorturm, stellte er eine "Bilderhalle", eine "Waffenhalle" und einen „Altdeutschen Wohnraum“ aus. Neben bedeutenden Werken mittelalterlicher Kunst präsentierte er in der „Waffenhalle“ das idealisierte ritterliche Leben des mittelalterlichen Edelmannes. Zur Erforschung der Geschichte des deutschen Sprachraumes gehörte für ihn aber auch, die Wohnverhältnisse von vergangenen Epochen darzustellen. Im „Altdeutschen Wohnraum“ wurden glanzvolle Exponate zu einer Art stimmungsvollen Requisite zusammengestellt.

Als seine Sammlung dann im Jahr 1852 an den heutigen Standort des GNM ins Kartäuserkloster zog, richtete Aufseß auch hier pittoreske, sinnlich anregende Räume ein. Die Objekte des „Altdeutschen Wohnraumes“ wurden nun im ehemaligen Refektorium des Klosters, dem Speisesaal der Mönche, in der sogenannten „Frauenhalle“ vereint. Nach seinen Vorstellungen präsentierte er hier die weibliche Lebenswelt der „deutschen Vorzeit“.


WEIBLICHE LEBENSWELT IN DER „FRAUENHALLE“


Hier findet sich Alles, worüber die Herrschaft der Frau sich erstreckt, harmonisch vereint.

Auf der Zeichnung, eine der ganz wenigen erhaltenen Abbildungen der „Frauenhalle“ (s. Titelabbildung), sind viele unterschiedliche Gegenstände zu erkennen, die als „Hausgeräth“ in den Zuständigkeitsbereich der Frauen gehörten. Zu finden war darin vom „geringsten Küchengeräth“ bis zum Goldpokal, vom Frauenschuh bis zum Goldschmuck alles, „was zum häuslichen Bedarf unserer Vorfahren in den ersten Jahrhunderten vor und nach der Reformation gehörte“. Das Heim, der private Bereich, wurde als das „Reich der Frau“ verstanden. Hier verschmolz die männliche Vorstellung von der bürgerlichen Dame des 19. Jahrhunderts mit Objekten, die nach damaliger Vorstellung zur Lebenswelt adeliger Frauen des Mittelalters gehörten.

Als klassischer period room kann die „Frauenhalle“ freilich nicht bezeichnet werden, denn Aufseß inszenierte hier weniger einen tatsächlichen Raum für Frauen, sondern vereinte alle Bereiche des damaligen Alltags, bei denen vermeintlich weibliches Zutun erforderlich war. So wurde zum Beispiel ein Teppich ausgestellt, dessen Bildprogramm die Beziehung von Mann und Frau in Spielszenen kleidet.

Dieser sogenannte „Spieleteppich“ gilt mit Fug und Recht als Highlight der „Frauenhalle“. Die Spieledarstellungen darauf sind Metaphern für die Liebe. Die Minne als vergnüglicher Zeitvertreib zwischen Mann und Frau stand zudem für die Idealvorstellung vom höfischen Umgang zwischen den Geschlechtern. Aufseß sah in dem Teppich einen Ausdruck mittelalterlichen Hausfleißes, denn in seiner Vorstellung fertigten ihn arbeitssame Frauen. Und nebenbei verdeutlichen die Motive den anständigen Umgang zwischen Mann und Frau, den das konservative Bürgertum des 19. Jahrhunderts gerne sehen wollte. Dass die Minnespiele eher frivol als sittsam waren, dokumentierte sehr anschaulich Der Liebe Spiel, eine Sonderausstellung des GNM aus dem Jahr 2008.

Auch die Darstellung der „Weiberlisten“ oder „Weibermacht“, die auf Exponaten der damaligen „Frauenhalle“ häufig zu finden waren, zeugen von diesem prüden Bild. Die Darstellungen der Judith oder Delila sollten im Mittelalter genauso wie im 19. Jahrhundert vor den listigen Frauen warnen, die Männer durch Alkohol und Liebreiz verführten. Zu einem Streifzug durch die verführerische Bilderwelt des GNM nahm Sie bereits unser Generaldirektor mit.


neue Lebenswelten unter von essenwein

Im Jahr 1862 zog sich Aufseß aus den operativen Geschäften des GNM zurück und in der Folgezeit war es vor allem August von Essenwein, ab 1866 erster Direktor des Hauses, der in der musealen Präsentation eine andere Richtung einschlug.

Fühlen sich die deutschen Frauen besonders geschmeichelt, wenn sie die Sammlung der Gläser und Krüge sehen, die man in ihrer Halle aufgestellt hat, die an echten Landknechtsdurst erinnern, unter denen einige sind, über die sich Ritter Schweinichen kaum getrauen würde? (Essenwein 1868)

Objekte, die für Männer gefertigt wurden, hatten in einer Halle für die weibliche Lebenswelt für ihn nichts verloren. Und zwei Jahre später urteilte er über die thematische Aufstellung von Aufseß in der „Frauenhalle“, dass „ein Alterthumsliebhaber so seine Wohnung ansprechend für sich und als Gegenstand des Neides für seine Freunde einrichten mag; Aufgabe einer wissenschaftlichen Anstalt ist es nicht.“ Essenwein zog es vor, ein „vollkommenes Bild einer bestimmten Zeit, Gegend und Gesellschaftsklasse“ zu vermitteln und empfand die Vorstellung seines Vorgängers als beinahe kitschig. Dennoch war für ihn das Ausstellen von „häuslichen Altertümern“ eine der wichtigsten Aufgaben des Museums. Er wollte den Entwicklungsgang des häuslichen Lebens so darstellen, dass die Besucher/-innen diesen Prozess aufs Neue durchleben konnten.


Wohnkultur der Renaissance und des Barock

Die Räume der frühneuzeitlichen Wohnkultur in der Präsentation Renaissance, Barock, Aufklärung sind weitere Beispiele für erfahrbare Raumeindrücke, die nach wie vor in die Dauerausstellungen des GNM integriert sind.

Diese zeigen umlaufende Wand- und Deckenvertäfelungen mit Portalen inklusive Einbauschränken und Kachelöfen. Exponate, die in dieses Ambiente und in die Zeit passen, bereichern die Räume. Es handelt sich jedoch nicht um eine Idealisierung vergangener Lebenswelten, wie in den period rooms des 19. Jahrhunderts, sondern um den Versuch einer wissenschaftlich fundierten Präsentation einer sogenannten Repräsentationsstube. Der gute Erhaltungszustand der Stube mit samt zugehörigem Gemäldezyklus und originalem Kachelofen ermöglicht ein ganz besonderes Raumerlebnis.

Auch vom prunkvollen Rokoko-Zimmer des Aachener Architekten Johann Joseph Couven ist die Wandverkleidung erhalten und zeugt eindrucksvoll von der Synthese der geschnitzten Holzelementen und Wandteppichen zu einem einheitlichen Raumentwurf. Die Tapisserien setzen die biblische Geschichte von Moses von dessen Auffindung am Nil bis zum Zerbrechen der Gesetzestafeln in Szene. Dieses Interieur kann in der Ausstellung Kunsthandwerk des Barock besichtigt werden. Beide Beispiele waren zwar einst Teil von Wohnhäusern, eine geschlechtsspezifische Zuschreibung ist hier aber nicht gewollt.


Lebenswelt Küche

Mit der „Frankfurter Küche“, nach einem Entwurf von Margarete Schütte-Lihotzky aus dem Jahr 1928, begehen wir das jüngste Interieur am GNM. Dieser Raum wird allerdings nicht sinnlich erfahrbar in Szene gesetzt: das Objekt steht für sich, es sind keine weiteren Exponate eingebracht

Die Küche spiegelt die neuen Anforderungen an die Frauen nach dem Ersten Weltkrieg wider. Frauen gingen vermehrt arbeiten und kümmerten sich aber weiterhin um Haushalt und Kinder. Dabei kam ihnen die Entwicklung funktioneller Kücheneinrichtungen, deren Handhabung Zeit und Kraft sparte, sehr entgegen. Die „Frankfurter Küche“ gilt als Vorbild für die moderne Einbauküche, die nach dem Zweiten Weltkrieg von den USA aus zum Welterfolg wurde. Zu betreten ist sie in der Dauerausstellung 20. Jahrhundert.

Beim nächsten Mal heißt es: #VW-Kolleg | 55 Jahre moderne Malerei am GNM
Bleiben Sie neugierig!


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